Identitätskrise, aber in Gut!
In eigentlich ungewissen Zeiten, in denen niemand so richtig zu wissen scheint, wohin mit sich, findet Kolumnistin Leoni sich in einer Identitätskrise wieder, mit der es ihr irgendwie gut geht.
In letzter Zeit denke ich oft über das Phänomen nach, dass man immer rückwirkend vermisst, weil einem zu spät auffällt, dass ein Moment in der Vergangenheit vollkommener war, als man ihn wahrnehmen konnte, während man ihn erlebt hat. Ich glaube, dass das eine Eigenart ist, die in der Natur des Menschen liegt, es macht Sinn – die Vergangenheit ist unser Prolog. Aber ich glaube auch, dass man dem entgegenwirken kann, wenn man aufhört, gedanklich in der Zukunft zu leben.
Ich habe bemerkt, dass ich keine Angst mehr vor der Zukunft habe.
Ich arbeite, ich lebe und zwischendurch passieren mir Sachen. Wenn ich früher viel zu tun hatte, dann hatte ich gleichzeitig Angst, dass ich es nicht schaffe, Freund*innen zu treffen oder Sachen zu unternehmen, weil jeder Tag nur 24 Stunden hat, noch weniger, wenn man zwischendurch schläft, Uni hat oder arbeitet. Obwohl ich immer diese Angst hatte, habe ich retrospektiv betrachtet das Gefühl, dass ich immer nur 80 Prozent meines Tages genutzt habe. Mit dieser Aussage geht ein gewisser Druck einher, ein Tag sei nur dann gut genutzt, wenn man viel macht. So meine ich das nicht. Aber mittlerweile nutze ich jeden Tag, und wenn ich einmal nicht alles schaffe, was ich habe schaffen wollen, dann stresst mich das nicht, weil ich nicht mehr in die Zukunft denke. Ich weiß selbst nicht genau, woher das kommt. Ob es der letzte Liebeskummer, der letzte Sommer oder der letzte Fehler war, den ich gemacht habe. Für alles, was ich heute nicht mehr schaffe und nächste Woche keine Zeit habe, freue ich mich auf übernächste. Ich habe noch genug Zeit zu leben, um alles zu machen, was ich gestern nicht erlebt habe. Es ist okay, dass ich seltener zu Hause anrufe, dass meine Wochentage manchmal keine Reihenfolge haben und ich spontan doch über Nacht bleibe, obwohl ich Dienstag das Bewerbungsgespräch habe. Und seitdem ich so denke, genieße ich viel mehr. Ich lebe meine Tage, wie sie kommen und meistens kommen sie anders als erwartet. Das sorgt dafür, dass ich weniger schlafe, aber auch dafür, dass ich glücklicher einschlafe.
Mit dieser Mentalität lebt es sich leichter. Ich habe das Gefühl, seitdem ich mich weniger stresse, passieren mir verhältnismäßig oft gute Sachen. Vielleicht auch nicht und ich schätze sie nur mehr wert. Aber mit diesem neuen stressfreien Mindset kommt das ganz starke Gefühl, dass alles, was irgendwie passieren soll, schon so passiert, wie‘s passiert. Wenn ich diesen Job bekommen soll, dann bekomm ich ihn schon, wenn das mein Mensch war, dann werd’ ich ihn wiedersehen. Und in der Zwischenzeit lebe ich weiter. Und alles kann passieren. Das ist irgendwie schön. Und ein Privileg.
Und ohne diese Nächte, die zu Morgen werden, während ich mein Gestern und mein Übermorgen vergesse, wüsste ich nicht, dass Sonnenaufgänge manchmal schöner sind als Sonnenuntergänge, dass die erste Tram vom Torgauer Platz angenehm leer ist, dass soziale Interaktion mir so viel gibt, dass ich auf dem Adrenalin der letzten Nacht den ganzen Tag und noch den folgenden funktioniere, und dass mein Bett immer noch das weichste von allen ist.
Dass ich so bin, wusste ich nicht. Und irgendwie fühle ich mich freier, obwohl ich mich vorher nicht unfrei gefühlt habe. Identitätskrise aber in Gut!
Fotos: Leoni Habedank
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