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  • Komfortzonen sind zum Verlassen da

    Im Sommer verließ Kolumnistin Leoni nicht nur das Land, sondern auch ihre Komfortzone. Warum sie immer noch konfessionslos ist und schlechte Erfahrungen manchmal zu guten werden.

    Vor mittlerweile zwei Monaten bin ich meine Reise nach Frankreich angetreten.

    Ich hatte zu Beginn des Sommers überlegt, wie ich meine Zeit nutzen könnte, hatte gedacht, ich werde nie wieder so viel frei haben wie jetzt zwischen Bachelor und Master, und wollte nochmal raus.

    Ich kaufte mir ein Interrail Ticket für Frankreich, weil Frankreich mir nah genug und gleichzeitig weit genug weg vorkam, mit dem Zug gut erreichbar schien und ich französisch spreche, wovon ich glaubte, dass es mir meine Erfahrungen erleichtern könnte. Eine Freundin empfahl mir Wwoofing. Eine Plattform, die ähnlich funktioniert wie Workaway, bei der man sich anmelden und dann einen Ort finden kann, an dem man umsonst schlafen und essen kann, während man im Gegenzug den Besitzer*innen bei der Arbeit hilft. Während ich auf den Beginn meiner Reise wartete, malte ich mir aus, was ich alles Großartiges erleben würde, wieviel ich lernen und welche inspirierenden Menschen ich treffen würde.

    Die fünf Stunden im TGV waren entspannt, ich trank zu viel Kaffee, hörte Musik und schaute dabei melancholisch aus dem Fenster.

    Leoni trinkt aus einer Tasse im Freien vor einer Gebäudewand. Der Blick auf sie wird durch Gräser gebrochen.

    Endlich wieder Kaffee mit Freund*innen auf Leipziger Balkonen

    Als ich abends in Ales ankam und von einer der Farmbesitzerinnen abgeholt wurde, war ich guter Dinge. Auch als niemand so richtig vorbereitet schien, als wir bei der Farm ankamen, man mich in die Scheune einquartierte, in der es kaum Licht, viel Staub und kein Badezimmer gab und mir nahelegte, ich möge all meine Endgeräte abschalten, da man „electro-sensible“ sei und es ohnehin kein Wlan oder Netz gebe, war ich zuversichtlich.

    Ich sagte mir, dass das genau das sei, was ich gerade brauche, dieses andere Leben genießen, was ich gerade anprobiere. Das sind schließlich auch irgendwie die Zwanziger, ausprobieren, was einem passt.

    Am ersten Tag gewitterte es und ich saß mit einer norwegischen Besucherin auf dem Beton Boden der Scheune, schnürte Zwiebeln und sortierte Kartoffeln. Aus Gründen, die mir nicht ganz klar waren, erzählte mir die Norwegerin nahezu ihre gesamte Lebensgeschichte, während wir zusammen arbeiteten und ich fühlte mich unwohl. Zum einen, weil ihre Lebensgeschichte unglaublich unbefriedigend klang, zum Zweiten, weil sie sich minütlich für ihr Leben rechtfertigte, zum Dritten, weil ich fand, dass es mir als Fremde nicht zustand, dieses Leben zu verurteilen oder irgendetwas daran zu kritisieren. Es war demnach ein sehr einseitiges Gespräch.

    Ich hatte gehofft, dass mir eine der Personen der Farm erklären würde, was genau ich zutun hätte, wann ich morgens anfing, welche Arbeiten ich übernehmen könnte. Leider hatte niemand wirklich Interesse daran, eindeutig mit mir zu kommunizieren und so fand ich mich nach drei Stunden Zwiebeln schnüren irgendwo auf der Farm wieder, suchend nach jemandem, der mir sagen könnte, was es als Nächstes zutun gab, um dann auf recht unfreundliche Weise die nächste körperlich stark, mental überhaupt nicht fordernde Arbeit zugeteilt zu bekommen. Ich arbeitete von 7 bis 13 Uhr, dann half ich beim Kochen, deckte den Tisch für alle, spülte ab und hatte frei.

    Da Camilla, die Norwegerin, sich am zweiten Tag dazu entschloss, nicht mehr arbeiten zu wollen, sondern lieber nur noch Urlaub zu machen, arbeitete ich ab Tag zwei allein. Ab 14 Uhr wanderte ich auf der Farm umher, stand zwischen den Feigenbäumen, plauderte mit den Hühnern auf Französisch und wartete, dass etwas passierte.

    Das Grundstück war riesig und wunderschön, befand sich aber in einem Wald und um mich herum gab es nichts als Bäume. Irgendwann versuchte ich mal im Wald wandern zu gehen, als es nicht weiter ging, drehte ich um.

    Als das Wetter besser wurde, verbrachte ich meine Nachmittage manchmal am Pool. Schwamm ein paar Bahnen, legte mich dann an den Beckenrand und las.

    An Tag drei hatte ich mein Buch ausgelesen.

    Die gemeinsamen Essen, die hier sehr ausgedehnt zelebriert wurden, wurden zu meiner täglichen Herausforderung. Die mentale Anstrengung, die bei den Arbeiten auf der Farm ausblieb, war am Tisch dafür so intensiver und ich kam regelmäßig an meine Grenzen, wenn ich versuchte, die Beweggründe für Veganismus auf Französisch zu erklären.

    Am vierten Tag kam ein Freund der Farm zum Mittagessen. Am Tisch ging es um Corona. Was mir zunächst als „normale“ Corona-Diskussion vorkam, bekam schnell eine andere Färbung, als ich den fremden Typen Bibelstellen zitieren hörte. Zwanzig Minuten später einigten sich alle makaber lächelnd darauf, dass wir bald alle sterben würden, die Vorboten seien ja eindeutig und man habe schon damit gerechnet. Beunruhigt darüber schien hier keiner. Ich schon. Um nichts Unüberlegtes zu sagen, entschied ich mich zu spülen und als ich wiederkam und es immer noch um Matthäus, Vers Schlag-mich-tot ging, ging ich in die Scheune und heulte eine halbe Stunde.

    Ich sagte mir, Adventismus und autoritäre Missionare sind nichts, was ich anprobieren werde.

    In den folgenden Tagen fing ich an, mich zu fühlen wie bei einer Zahnbehandlung, wenn eine Helferin verhindert, dass man bei Schmerzen seinen Kopf dreht. Monique fuhr ins Dorf zum Zahnarzt und ich stellte mir vor, wie sie dem Arzt sagte, wie er seine Arbeit zu machen hatte, und ich blieb mit Christiane zurück, einer kleinen neurotisch-hektischen Frau, deren Stimme, wenn sie nach mir rief, Frequenzen annahm, die nur Hunde hören können.

    Nach einer Diskussion beim Essen, weil ich nicht verstand, warum ein Neffe von Monique zu seinem zwanzigsten Geburtstag ein Buch über die Ehe geschenkt bekam und alle anderen nicht verstanden, warum ich noch nie darüber gelesen hatte, warum ich glaubte, dass eine Ehe etwas mit Liebe zutun hätte und wie ich glauben könne, in einer männerdominierten Gesellschaft ohne Ehemann überleben zu wollen, verließ ich die Farm. Ich lief intuitiv in die Richtung, in der ich die Stadt vermutete, ballerte mir dabei ein bisschen Techno über Kopfhörer und erreichte irgendwann eine Schnellstraße. Für eine Minute überlegte ich zu trampen, dann entschied ich mich für laufen und lief an der Seite der Schnellstraße, bis ich nach eineinhalb Stunden und sieben bis zehn Nahtoderfahrungen den nächsten Ort erreichte.

    Im Intermarché kaufte ich ein Orangina light für meinen Zucker und Tabak, um mich wieder ein bisschen nach Millennial zu fühlen.

    Als ich abends von meinem Ausflug zurückkam, sagte Monique, sie habe ein Problem damit, wenn ich in den Ort ging. Als ich fragte, warum, meinte sie, ich würde Corona mitbringen, wenn ich aus dem Ort zurückkehrte und es sei zu gefährlich. „Deine Vorgängerin hat das auch gemacht“, sagte sie und ich fühlte mich ein bisschen wie bei Handmaids tale, als die Protagonistin im Wandschrank eingeritzte Hilferufe ihrer Vorgängerin findet.

    Am sechsten Tag war mir schon morgens beim Frühstück nach der ersten Kippe.

    Als ich anderthalb Monate später, nach meiner Abreise aus der Provence, einer Reise an die Cote d’Azur, einer weiteren Farm-Erfahrung und um viele zwischenmenschliche Erfahrungen reicher, meinen Freund*innen von allem erzählte, fragten mich viele, warum ich nicht einfach abgereist sei.

    Nach der ersten Grenzerfahrung auf der ersten Farm, als mir nach nichts mehr war, als einfach meinen Backpack zu packen und die nächste Bahn nach Deutschland zu nehmen, stellte ich mir diese Frage auch. Aber irgendwas hielt mich zurück. Mir fällt kein Wort ein, um dieses Gefühl zu beschreiben, aber alles an dieser Erfahrung war so grundverschieden von dem, was ich erwartet hatte, dass es mich bleiben ließ. Letztendlich, und ich meine das genauso ausgelutscht, wie es klingt, läuft nicht immer alles so, wie man es sich vorgestellt hat. Eigentlich nichts, wenn ich genau darüber nachdenke. Und im Leben geht es irgendwie auch immer ein bisschen darum, mit Situationen klarzukommen, die anders sind als die eigenen völlig überzeichneten Vorstellungen von Realität. Ich wäre nicht ich, wenn ich nicht die schlechten Erfahrungen gemacht hätte. Und ich wäre nicht ich, wenn ich nicht stur etwas aushalten würde, dem ich mich selbst ausgesetzt habe, um mir zu beweisen, dass ich es kann.

    Nach diesem Sommer bin ich um einige Erfahrungen reicher. Mein Ladekabel ist kaputt, ich habe immer noch Sommersprossen auf meinen Schultern, die täglichen 20 km zu Fuß schaffe ich nicht mehr, aber ich wache immer noch intuitiv um 7 auf.

    Ich weiß jetzt, dass ich ziemlich gut mit mir allein sein kann, dass Komfortzonen zum Verlassen da sind, und dass ich eines Tages einen Feigenbaum in meinem Garten haben will.

    Fotos: privat

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