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  • Urkomisch und Entsetzlich

    Wer sind wir ohne eine Beziehung? „The Lobster“ wurde beim Polyloid Filmfest 2021 gezeigt.

    Sechs Jahre ist es her, dass „The Lobster“ in die Kinos kam. Beim Polyloid Filmfest im Leipziger Osten wurde er nun erneut auf (mittel)großer Leinwand gezeigt. Er war ein Wunschfilm – eingeschickt von Menschen, die er „berührt und begeistert“ hatte. Es ist diese Idee, die das Polyloid Filmfest besonders macht – die potenziellen Besucher*innen können selbst wählen, welche acht Filme auf dem Festival gezeigt werden sollen. Auch besonders: Die Filme werden an Orten entlang der Eisenbahnstraße gezeigt – auf einem gepflasterten Platz zwischen zwei Imbissbuden, auf einer Brache, einem Parkplatz. Eine schöne Idee, die vielleicht in der Umsetzung etwas hinkt. Denn während „The Lobster“ über die Leinwand flimmerte, zog doch immer wieder ein deutlicher Abfallgeruch aus den nahestehenden Mülltonnen in die Nase der Schaulustigen. Klingt ein bisschen komisch? Nicht so schlimm, passt zum Film.

    Kritiker haben „The Lobster“ als „hilarious and horrific“, also urkomisch und entsetzlich zugleich beschrieben. Selbst nach langem Überlegen finde ich keine treffenderen Adjektive. Der Film öffnet ein Fenster in eine Welt, in der alles irgendwie grau, monoton und statisch ist – die Landschaft, die Menschen und die Gefühle. Durch dieses Fenster beobachten die Kinogänger*innen David. Davids Frau verlässt ihn, deswegen muss er sich zu einem Hotel auf dem Land begeben, wo er 45 Tage Zeit hat, um eine neue Partnerin zu finden. Schafft er das nicht, wird er in ein Tier seiner Wahl verwandelt. David entscheidet sich für einen Hummer. So weit, so seltsam.

    Das Urkomische

    David sitzt in einem Ledersessel an einem Indoor-Pool, an seiner Seite ein Glas Orangensaft. Er trägt Badeshorts, Flipflops und ein offenes weißes Hemd.

    Die Tage im Hotel vergehen und David sucht vergeblich nach einer kompatiblen Gefährtin.

    Was diesen Film so urkomisch macht, ist die Selbstverständlichkeit, mit der David und all die anderen Singles ihr Schicksal annehmen. Niemand will in ein Tier verwandelt werden, alle geben ihr Bestes, um einen neuen Partner oder eine neue Partnerin zu finden, aber niemand kommt auf die Idee, das System selbst in Frage zu stellen. Immer wieder gehen die Hotelgäste im Wald auf die Jagd nach „Lonern“, Singles, die aus dem Hotel geflohen sind. Pro gefangenem Loner bekommt man einen Tag mehr Zeit im Hotel.

    Die Charaktere selbst haben keine Tiefe, sie sagen, was sie meinen – sprechen von Selbstmord, Analsex und Verstümmelung, als redeten sie über das Wetter und kreieren damit eine Absurdität, die ihresgleichen sucht. Als David schlussendlich aus dem Hotel in die Wälder flieht, um sich dort den „Lonern“ anzuschließen, ist das kein Akt der Rebellion, sondern einer des Überlebens. Und auch dort gibt es eine repressive Doktrin und David ordnet sich unter. Erstmal.

    Das Entsetzliche

    Léa Seydoux aka die Anführerin der Loner führt ein großes Hausschwein durch den Wald. Sie hat rote Haare und trägt ein grünes Regencape.

    Die Anführerin der Loner – unter ihrer Herrschaft gibt es auch im Wald keine echte Freiheit.

    Dass „The Lobster“ nicht nur urkomisch, sondern auch entsetzlich ist, hat zwei Gründe. Der erste sind die Szenen unverhoffter und kommentarlos kalt präsentierter Gewalt, die die Zuschauer*innen immer wieder wie Hammerschläge treffen. Diese Szenen gehen bis ins Mark, weil sie die einlullende Monotonie des Filmes auf schockierende Weise durchbrechen und weil sie von den Protagonist*innen mit so wenig Gefühlsregung hingenommen werden. Der zweite Grund ist, dass „The Lobster“ so offensichtlich eine Satire auf unsere gesellschaftlichen Konstrukte rund um Liebe und Beziehungen ist.

    Wir allen kennen die Angst vor dem Alleinsein. Und dieses peinliche Gefühl, wenn Freunde Pärchen-Spieleabende veranstalten, mit ihrem Liebsten in den Urlaub fahren und Babynamen aussuchen, während wir bei Yoko Sushi das Single-Menü bestellen, zum dritten Mal diese Woche.

    Mit zwanzig Single sein? Kein Problem.

    Mit dreißig? Na gut.

    Mit vierzig? Solltest du besser 1,5 Kinder, ein Haus und einen Hund haben. Wie alle anderen auch.

    Letztlich ist „The Lobster“ in seiner simpelsten Interpretation eine Analogie auf die Torschlusspanik, die in unserer Gesellschaft so allgegenwärtig ist. Doch wer tiefer blickt, stellt schnell seine Vorstellung von Liebe und Beziehung generell in Frage. Was macht zwei Menschen kompatibel? Äußerliche Attribute, wie regelmäßiges Nasenbluten oder Kurzsichtigkeit in „The Lobster“? Absurd oder?

    Aber sind wir so viel besser? Worauf verlassen wir uns? Und was hat Kompatibilität mit Liebe zu tun?

    Ich denke, man kann einen Menschen lieben und absolut unfähig sein, mit ihm zusammenzuleben. Ich denke, man kann dutzende Interessen mit einem Menschen teilen, ohne ihn das kleinste Bisschen attraktiv zu finden. Ich denke auch, dass wir viel zu oft viel zu lang in Beziehungen bleiben, die uns nicht mehr glücklich machen, entweder weil wir all diese Kompatibilität nicht verschwenden wollen oder weil wir den Mangel daran vor lauter Liebe nicht sehen können. Oder weil wir Angst haben, allein zu sein.

    Denn wer allein ist, kann ja ebenso gut zum Tier werden. Richtig?

    Das Polyloid Filmfest geht heute zu Ende. Wer Lust auf einen Filmabend im Leipziger Osten hat, kann sich um 20:30 Uhr „Shoplifters“ im Pöge-Haus ansehen.

    Fotos: Despina Spyrou

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