Immergut: „Schuld und Sühne“
Wir verraten euch weiterhin wöchentlich die besten Medien, um den Quarantäneblues zu vertreiben – diese Woche der Roman „Schuld und Sühne“ (auch „Verbrechen und Strafe“) von Fjodor Dostojewskij.
Während seines mehrjährigen Aufenthalts im sibirischen Arbeitslager Mitte des 19. Jahrhunderts war Dostojewskij von politischen Kriminellen, Mördern und Dieben umgeben. Dort kam er zu dem Schluss, dass die überwiegende Mehrheit der durch die Menschen im Arbeitslager begangenen Verbrechen aufgrund von grenzenloser menschlicher Verzweiflung geschah. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland waren viele Bauern mittellos und gezwungen, in große Städte zu ziehen, wo sie tranken, raubten und töteten. Der Aufenthalt im Arbeitslager legte den Grundstein für Dostojewskijs Roman „Schuld und Sühne“, der 1886 veröffentlicht wurde. Es ist wohl das berühmteste Werk des Schriftstellers und zählt zu den großen Klassikern der Weltliteratur.
Der Roman erzählt die Geschichte des in Armut lebenden Jurastudenten Raskolnikow. Der vergleicht sich gerne mit Napoleon, fühlt sich den meisten Menschen überlegen und glaubt, gewissenlos zu sein. Er begeht einen Mord an der alten, habgierigen Pfandleiherin in seinem Haus. Er besucht sie, erschlägt sie und die unvermittelt aufgetauchte Schwester der Pfandleiherin und verfällt nach dem Doppelmord in fiebrige Schuldgefühle. Er, der Verbrecher, sehnt sich fortan nach Strafe, um seine Untat zu sühnen, doch wahrhafte Rettung verspricht ihm allein seine Liebe zu der Prostituierten Sonja.
Der Autor schafft ein tiefgründiges Meisterwerk, das soziale, psychologische, und philosophische Aspekte miteinander verflechtet. Es gelingt Dostojewskij, ein detailliertes psychologisches Persönlichkeitsprofil Raskolnikows zu erschaffen, das eine umfassende Beschreibung seines Seelenzustandes liefert. Es beschreibt eine mittellose verirrte Seele auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Raskolnikows Wahnvorstellung ist Vorläuferin der Idee eines Übermenschen, die Nietzsche in seiner Übermensch-Konzeption im selben Jahrhundert formuliert.
Zugleich beschreibt Dostojewskij im Roman auch sehr eindrucksvoll, was sich um den Protagonisten herum abspielt. Er behandelt gesellschaftskritische Aspekte, wie die Unterdrückung und die schreckliche Armut der allermeisten Menschen in der russischen Gesellschaft, deren traurige Situation damals für niemanden von Interesse war. Erstickend in Armut, sozialer Ungerechtigkeit und Hoffnungslosigkeit wird die Rebellion und die moralische Selbsttäuschung Raskolnikows nahezu erzwungen. Raskolnikow repräsentiert den moralischen Zerfall der gesamten damaligen Gesellschaft.
Ein wahrer Krimi unter den Klassikern. In einem gesellschaftskritischen Rahmen deckt Dostojewskij die dunkelsten Tiefen der menschlichen Psyche auf und behandelt dabei philosophische Fragen über Moral, Religion und das Konzept des Übermenschen, die auch bis in unsere Zeiten kaum an Aktualität verloren haben. Immergut für ein langes Wochenende.
Cover: dtv Verlag
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