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    Kolumnistin Pauline hat ihr Auslandssemester in Szczecin abgebrochen und zu Fuß die deutsch-polnische Grenze überquert.

    Vor gut einem Monat habe ich noch eine Kolumne darüber geschrieben, dass es sich im Wohnheim in Szczecin trotz Coronakrise ganz gut leben lässt. Zwei Wochen später brach ich mein Auslandssemester ab und zog zurück nach Deutschland.

    Kolumnistin Pauline an ihrem letzten Abend in Szczecin

    Wieso so plötzlich? Das Wohnheimzimmer erschien immer kleiner, je länger wir uns darin aufhielten und ab Karfreitag sollten neue Bestimmungen gelten: Wer nach Deutschland einreist, muss 14 Tage in Quarantäne. Also reisten wir am Gründonnerstag ab.

    Polen gehört seit 2004 zur EU, seitdem hat das Land die östliche Außengrenze besonders stark überwacht und sich 2015 geweigert, Geflüchtete aufzunehmen. Jetzt sind auch EU-Binnengrenzen für EU-Bürger*innen ungewohnt verschlossen. Normalerweise überquert ein Regionalzug von Szczecin aus die westliche Grenze Polens im Zwei-Stunden-Takt. Einmal in Angermünde umsteigen und schon ist man in Berlin. Aber grenzüberschreitenden Bahnverkehr gab es jetzt nicht mehr.

    Von dem Deutschen Generalkonsulat Danzig erfuhren wir: „Am einfachsten ist es weiterhin, einen Mietwagen zu nutzen, da per PKW alle geöffneten Grenzübergänge genutzt werden können. Die meisten Deutschen, die sich an das Generalkonsulat gewandt haben, haben auf diesem Weg Polen verlassen.“ Die meisten Deutschen, die sich an das Generalkonsulat gewandt haben, scheinen sehr, sehr reich zu sein. Denn ein Auto in Szczecin abzuholen und im 300 km entfernten Schwerin abzugeben, kostete zu dem Zeitpunkt gut 1.000 Euro.

    Die Auskunft der deutschen Botschaft in Warschau war hilfreicher, zumindest bestätigte sie, dass unser äußerst günstiger, äußerst komplizierter Reiseplan sicherlich funktionieren würde.

    Ein mittelgroßer Koffer, ein kleiner Rucksack, eine Ledertasche, ein Beutel und ein Cello.

    Also standen wir am Gründonnerstag zu einer unchristlichen Zeit auf, um uns von den Damen an der recepcja zu verabschieden…Wir schleppten unser Gepäck (Ich: einen riesigen, aber erstaunlich handlichen Rimowa-Koffer, eine ziemlich alte, unhandliche Reisetasche, einen kleinen Rucksack und einen Beutel, Caspar: einen mittelgroßen Koffer, einen kleinen Rucksack, eine Ledertasche, einen Beutel und ein Cello) zur Tramstation. Wir fielen eher in die Tram ─ natürlich eine von den alten mit Stufen ─ als dass wir in sie einstiegen.

    Der Szczeciner Hauptbahnhof liegt am Hafen. Von dort fuhren wir mit der Regionalbahn, in der ansonsten nur alte Damen saßen, nach Kostrzyn nad Odrą. Denn bei diesem Ort ist es möglich, zu Fuß nach Deutschland zu kommen. Zunächst nahmen wir aber ein Taxi, der polnische Taxifahrer sprach natürlich deutsch und bedauerte, dass er uns nur bis zur Grenze fahren konnte und keinen Meter weiter. Er fuhr uns an deutschsprachigen Schildern vorbei, „Zigaretten und Zigarren, alle Marken – billig!“, und hielt nicht weit entfernt von einem zweisprachigen Kindergarten an.

    Grenzgänger*innen von Deutschland nach Polen wurden zu diesem Zeitpunkt schon kontrolliert, weswegen wir an einigen Männern in Uniform und einer Frau im Ganzkörperschutzanzug vorbeiliefen. Sie sagten „Dzień dobry“ und wir auch, aber ich stolperte dabei, weil mein Koffer doch nicht so handlich ist und weil mir Autoritäten Angst einflößen. Dann liefen wir über eine Brücke, unter uns die Oder.

    Seit 1945 sind Oder-Neiße-Grenze und deutsch-polnische Grenze Synonyme. Dieses Thema hat sehr lange eine Versöhnung oder gar Freundschaft zwischen den zwei deutschen und dem polnischen Staat verhindert. Manche Vertriebene und Nationalist*innen in Deutschland wollen den Grenzverlauf immer noch nicht akzeptieren, aber ein Debattenthema ist er nicht mehr. Schließlich ist die Grenze meistens offen. Außer jetzt.

    Wie trennend so eine Grenzschließung wirkt, zeigt auch der Ort, zu dessen Bahnhof wir drei äußerst anstrengende Kilometer liefen, durch ein Naturschutzgebiet und vorbei an einer ehemaligen Kaserne. Das brandenburgische Küstrin-Kietz war früher ein Stadtteil des Ortes, aus dem wir gerade kamen. Hier fahren die Deutschen zum Einkaufen nach Polen, die Pol*innen zum Arbeiten nach Deutschland. Jemand hat seinen Briefkasten in Polen gekauft, groß steht drauf, welches Fach für listy ist und welches für gazeta. Oder-Neiße-Radweg, Polenmarkt, zweisprachiger Kindergarten ─ alles zu. Nur zum Arbeiten kann man die Grenze überqueren.

    Wir können erst einmal nicht zurück. In Polen passiert vieles ─ Wälder brennen, Wahlen werden stattfinden, Warschau wird verklagt─ und wir sehen aus der Ferne zu.

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