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    Impressionen aus der Zeit zwischen Abitur und Studium: der Duft von Freiheit, Gedanken an den Tod, Umzugsstrapazen und Ersti-Gruppen auf Facebook.

    Ein halbes Jahr lang habe ich mich im Leben treiben lassen, mich einer gewissen Zeitlosigkeit hingegeben und fühlte mich so frei wie noch nie zuvor. Es war Sommer 2019, die Zeit nach dem Abitur und der Beginn eines neuen Lebensabschnitts.

    Ich bin meistens viel zu spät aufgestanden (ging trotzdem früh zu Bett, um den Schlafmangel meiner Schulzeit zu kompensieren), bin quer durch Europa gereist, habe Festivals besucht, bin mit ein paar Schlüpfern, Socken und Schlafsack durch die Wildnis Tschechiens gewandert und habe dabei unter freiem Sternenhimmel geschlafen. Da schienen mir noch tagtäglich die wärmenden Sonnenstrahlen ins Gesicht.

    Und plötzlich war der Sommer vorbei und es war wieder an der Zeit, in die Heimat zurückzukehren, ab und an arbeiten zu gehen und die Ruhe vor dem Sturm, dem Studium, zu genießen. Dem Herbst- Blues und der eingetretenen Langeweile folgte jedoch eine gewisse Lebenskrise. Die Stetigkeit meiner Aufgabenlosigkeit ist mir wie schwarzer Dunst in den Kopf gestiegen. Ich fühlte mich, als hätte ich mich im Konzept des Lebens verirrt.

    Kolumnistin Anna ist gerade nach Leipzig gezogen.

    Häufiger begann ich, über den Tod im philosophischen Sinne zu sinnieren. So brachte ich mich selbst an den Punkt, dass ich nach zwölf Jahren Schule und einem Abitur das Gefühl hatte, das Leben nicht mehr zu verstehen. Wer bin ich, was bin ich und hat der Mensch eine Seele? Existiert diese nach dem Tod noch weiter? Wie groß ist die Bedeutung des menschlichen Seins in unserem Universum? Darmbakterien wissen schließlich auch nicht, dass sie Teil eines komplexen Systems, nämlich des menschlichen Organismus, sind. So stellte ich bizarre Theorien auf, verleugnete an manchen Stellen die Vernunft und dachte viel über die Macht der Elektronen nach, welche ja eigentlich ganz grob gesagt, die Basis jeglichen Daseins darstellen. Womöglich sind einige wissenschaftliche Erkenntnisse eben nicht unfehlbar und mit aller Wahrscheinlichkeit sind wir ein klitzekleiner Teil eines großen Ganzen, welches wir nie zu verstehen vermögen.

    Letzten Endes sind wir die Darmbakterien unseres Weltalls.

    Manchmal schadet es nicht, über Existenzielles nachzudenken, denn jeder so wichtig erscheinende Alltagskonflikt, verliert sich auf einmal in der Irrelevanz.

    Und so habe ich langsam gemerkt, dass das Nichtstun und die „Nach-Abitur-Lebenskrise“ ein Ende nehmen müssen.

    Diese Phase ging vorbei und nach der langanhaltenden Stagnation im September wurde mir bewusst, dass das Leben auch wieder weitergeht und es Dinge gibt, um die man sich kümmern sollte: umziehen und sich mit dem anstehenden Studium auseinandersetzen. Und sich vielleicht in der Ersti-Gruppe auf Facebook anmelden, in die sich sogar die eigene neugierige Mutter eingeschleust hat. Faszinierend war die Vielfältigkeit der Posts, die zum gemeinsamen Basketballspielen oder Essengehen aufriefen. Genauso wie die hohe Scheiterquote dieser Treffen, da manche Lokale einfach keine Kapazitäten für 60 „Ich bin dabei“-Kommentierende auf Facebook haben.

    Vor ein paar Tagen bin ich nun mit einem Koffer und einer dicken Federdecke am Leipziger Hauptbahnhof eingekommen. Mittlerweile wohne ich in einer coolen Zweier-WG, in der es nie an genügend Winterteesorten, billigem Wein und Lichterketten mangelt. Ausgestattet mit der Öffi-Fahrplanauskunft und Mamas Putztüchern nimmt mein Leben seinen Lauf.

    Ich bin voller Vorfreude auf die folgende Etappe der neu gewonnenen Autonomie und meine lang ersehnte Matratze, deren Lieferung sich um zwei Wochen verzögert hat.

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