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  • Zu viele Eindrücke und zu wenige Schubladen

    Kolumnistin Pauline hat zwei Wochen in Armenien verbracht, einem kleinen Land im Kaukasus. Sie teilt ihre Erinnerungen an geschlossene Grenzen, Musik und Bären in den Bergen.

    Im August war ich in Armenien, um dort an einer Sommerschule teilzunehmen. Zwei Wochen lang habe ich in der Hauptstadt Yerevan bei einer Gastfamilie gelebt, bin jeden Tag in eine Marschrutka, eine Art Kleinbus, eingestiegen und meistens zu spät an der Universität angekommen, weil ich einfach nicht verstanden habe, wo ich aussteigen musste. Dazu lief Volksmusik oder armenischer Pop.

    Inzwischen bin ich seit fast einem Monat zurück in Deutschland, habe mich vom unvermeidlichen Durchfall erholt und immer noch nur Tagebuchfetzen vor mir liegen, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügen lassen.

    Nach meinem ersten Tag in Yerevan habe ich mir notiert: „Schon jetzt zu viele Eindrücke und zu wenige Schubladen.“ Da kam ich gerade von einer Veranstaltung zu Ehren gefallener Soldaten im Bergkarabachkonflikt. Armenien grenzt im Norden an Georgien, im Osten an Aserbaidschan, im Süden an den Iran und im Westen an die Türkei. Die Grenzen zur Türkei und Aserbaidschan sind allerdings geschlossen. Zwischen Armenien und Aserbaidschan liegt die Region Bergkarabach, die beide Länder für sich beanspruchen. Zwischen der Türkei und Armenien liegt der Völkermord von 1915.

    Es gibt weltweit etwa acht Millionen Armenier*innen. Aber in Armenien leben nur drei Millionen Menschen. Bei den panarmenischen Spielen, die dieses Jahr in Yerewan stattfanden, kamen Diaspora-Armenier*innen aus der ganzen Welt zusammen, um sich in verschiedenen Sportarten zu messen. Auf meinem Rückflug nach Deutschland saßen in der Reihe hinter mir drei US-Amerikaner*innen armenischer Herkunft, die das gleiche Basketballspiel wie ich gesehen hatten.

    Kolumnistin Pauline vor dem Berg Ararat

    Einmal sind wir in die Berge gefahren, zum Kloster Chor Virap. Von dort aus hat man eine gute Sicht auf den Berg Ararat, wo die Arche Noah nach der Sintflut gestrandet sein soll. Er ist Teil des armenischen Wappens, liegt aber in der Türkei.

    An einem anderen Tag sind wir in einen Nationalpark gefahren, in dem es nach Kräutern und Pferdemist duftete. Eine dort ansässige Organisation nimmt Bären auf, die Privatpersonen oder Restaurants zum Vergnügen halten, und versucht sie wieder an die Wildnis zu gewöhnen. Einen Bären, der noch im Käfig gehalten werden musste, durften wir sehen. Er war groß und wirkte doch nicht mächtig, sondern wie ein anhänglicher Hund.

    Weitere Bilder, die meinen Kopf lange nicht verlassen werden und in meinem Notizbuch für noch längere Zeit festgehalten sind: dass die sitzenden Frauen in der übervollen Marschrutka wortlos die Handtaschen – meist gefälschte Marken – der stehenden, wegen der geringen Größe der Busse halb gebückten Frauen an sich nehmen. Und dann war da der Moment, in dem meine Gastschwester sagte: „Ich denke, dass Homosexualität eine Krankheit ist. Es ist therapierbar.“

    Was ich auf dem Weg zur Universität alles gesehen habe: magere Katus (Katzen ─ das einzige armenische Wort, was ich behalten habe), fast genauso magere Straßenhunde und Lieferwägen mit deutscher oder französischer Aufschrift, die in Europa nicht mehr gebraucht werden. Einmal bin ich über die vielen Treppenstufen in eine Straße gelangt, in der es nur Schlachtergeschäfte gab. In kleinen Lieferwägen ohne ersichtliche Kühlung wurden die riesigen Körperteile von Rindern angeliefert und in den Geschäften direkt vor den Augen der Kund*innen verarbeitet. Am Rande des Bürgersteigs lag ein Kuhkopf.

    Inmitten all der Armut, der wirtschaftlichen Abhängigkeit von anderen Staaten und den vielen Diaspora-Armenier*innen sahen wir eines heißen Nachmittags ein weißes Backpackerpaar betteln, das so aussah, als könnte es auch ein paar Pfannen gegen Geld spülen oder einfach bei den Verwandten anrufen. „Bitte gebt uns Geld für unsere Reise“ stand auf ihrem Schild geschrieben ─ in kyrillischer Schrift, die hier fast alle beherrschen. Dass auch hier die Sowjetunion war, sieht man an den Plattenbauten, die aus rötlicherem Stein sind als Zuhause.

    Ich erinnere mich, wie eine Sommerschulteilnehmerin lernte, die armenische Flöte Duduk zu spielen, und wir alle Volkstänze zu tanzen, an die Bilder vom Künstler Martiros Sarjan und die von uns in den Bergen. Dass wir uns alle irgendwann nur noch von Salzstangen und Cola ernährten, hat auch irgendwie dazugehört. Und unsere Erleichterung nach Europa zurückkehren zu können, wo zwar nicht alles einfach, aber vieles einfacher ist.

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