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  • „Heimat ist etwas, das man in sich selbst trägt“

    Wohin gehören wir? Was bedeutet Heimat? In einer globalen Welt müssen diese Fragen immer wieder neu gestellt werden. Romanistik-Professor Alfonso de Toro im Interview über Identität und Zugehörigkeit

    Alfonso de Toro ist emeritierter Professor für Romanische Literaturwissenschaften und Kulturstudien an der Universität Leipzig und Direktor des Ibero-Amerikanischen Forschungsseminars und des Frankophonen Forschungsseminars am Institut für Romanistik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Migration und Identität sowie Diasporas, also religiös, national, kulturell oder ethnisch homogene Gemeinschaften, die sich außerhalb ihrer traditionellen Heimat an einem neuen Ort zusammenfinden. Eine der größten Diasporas weltweit ist die der, in der ganzen Welt verteilt lebenden, Juden*. luhze-Redakteurin Leonie Asendorpf sprach mit de Toro im Interview über den Integrationsbegriff, Identität und den Einfluss der Geisteswissenschaften auf Politik.

    luhze: Sie sind Literatur- und Kulturwissenschaftler. Wie kann diese Disziplin Einfluss auf aktuelle gesellschaftspolitische Debatten nehmen?

    De Toro: Die Literatur- und Kulturwissenschaften entdecken oft schon Jahre im Voraus gesellschaftliche Prozesse, die dann Realität werden. Sie sind wie eine Art Detektoren mit großen sensiblen Antennen, die alles aufsaugen und sich in Romanen oder Essays niederlegen. Jeder literarische Text, jedes Kunstwerk hat ein eigenes Wissen. Meine Aufgabe ist es dieses Wissen sichtbar zu machen und es dann in Verbindung mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu bringen.

    Ein zentrales Konzept ihrer Arbeiten ist das der Diaspora und insbesondere das der „performativ-hybriden Diaspora“. Was kann man sich darunter vorstellen?

    Normalerweise werden unter dem Diaspora-Begriff geschlossene oder sogar Parallelgesellschaften verstanden, die eher in sich gekehrt sind und ihre Traditionen versuchen „rein“ zu halten.

    Eine performativ-hybride Diaspora bildet sich aus unterschiedlichen Ethnien, die aber etwas Gemeinsames haben, und zwar, dass sie vom gemeinsam geteilten Ort und von einer neuen Kultur bestimmt sind. Migranten, die in Deutschland oder anderswo legal, aber vor allem in der Illegalität leben, sind zwar kulturell sehr heterogen, sie leiden aber unter Diskriminierung, Ausgrenzung, verschiedenen Formen von Rassismus und im letzteren Fall auch noch unter Ausbeutung, Leid, einem Leben in Angst – sie sind also von der jeweiligen Situation abhängig.

    Das Performative steht dafür, dass eine Identität nie fest, sondern immer im Werden ist. Identität ist ein Zukunftsprojekt. Das Performative ist also etwas Nomadisches, Bewegliches, Unabgeschlossenes.

    Das Hybride steht für die verschiedenen Elemente, die sich in einem Reibungszustand befinden und immer wieder verhandelt werden müssen. Wenn jemand also mehrere Kulturen in seiner Identität verankert hat, dann können sich diese reiben. Die Frage nach Zugehörigkeit ist ein Akt der Verhandlung, welcher sehr schwer sein kann. Deshalb bedeutet kulturelle Vielfalt immer auch Arbeit.

    Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf der Analyse der mexikanischen Diaspora in den USA. Wie unterscheidet sich diese von Diasporas in Deutschland?

    Der Unterschied liegt vor allem darin, dass die Migranten in Deutschland zum allergrößten Teil legal gekommen sind, da Deutschland viele von ihnen anfänglich als Gastarbeiter ins Land geholt hat. Mexikanische Migranten in den USA sind in großen Zahlen illegal eingereist.

    Als Bush 2006 die US-amerikanische Armee an die Grenze zu Mexiko schickte, gab es einen riesigen Streik. Millionen von illegalen Arbeitern sind von Kalifornien bis nach New York auf die Straße gegangen und haben die Städte lahmgelegt. Könnten Sie sich das in Deutschland vorstellen? Diese Arbeitsdiaspora in der Illegalität, wie wir sie in den USA sehen, ist mit keinem anderen Land vergleichbar.

    Eine ihrer Thesen besagt, dass das Konzept der europäischen Union unter anderem dazu geführt hat, dass Fremdenfeindlichkeit und Rassismus innerhalb des Kontinents Europa zugenommen haben. Wie kommen Sie zu dieser These?

    Alfonso de Toro

    Alfonso de Toro hat 23 Jahre an der Universität Leipzig gelehrt.

    Europa hat sich immer gegenüber dem Anderen nach innen definiert. Es war schon immer ein Kontinent der Migration, sowohl vor, also auch nach der „Entdeckung“ Amerikas. Es hat sich aber nie als Migrationsland verstanden. Bis vor einigen Jahren noch hat sich Deutschland als Nicht-Einwanderungsland definiert. Das ist Unfug. Das gilt weitestgehend für fast alle westeuropäischen Länder.

    Europa ist noch immer stark vom Kolonialismus geprägt. Trump handelt im Ernst nicht anders als Europa. Er spricht es nur aus: „America first“. Die Europäer denken „Europa first“, zum Beispiel in der Handelspolitik in Afrika: das ist Kolonialismus in reinster Form.

     

    Was wird in Deutschland unter dem Begriff „Integration“ verstanden?

    Das Wort Integration setzt immer eine Hierarchie voraus. Von Migranten wird (je nach politischem Standort) oft erwartet sich in zum Beispiel Deutsche zu verwandeln. Was heißt aber Deutschsein überhaupt?

    Ich stehe dem Integrationsbegriff kritisch gegenüber, denn das Problem ist nicht ethnisch: Wenn der Nachbar laute arabische Musik hört oder mit sehr vielen Gewürzen kocht, dann hat das mit sozialem Verhalten zu tun, nicht mit Ethnien. Deshalb ist der Alltag das, was das Zugehörigkeitsgefühl für Migranten fördert, nicht die Verfassung.

    Ich frage mich auch, warum beispielsweise Menschen mit türkischem Migrationshintergrund der dritten Generation im Alltag immer noch als Türken bezeichnet und behandelt werden. Das hängt auch mit dem ständigen Fragen nach der Herkunft zusammen. Welchen Erkenntnisgewinn hat man, wenn man weiß, dass ich in Chile geboren bin? Ich lebe seit über 50 Jahren in Deutschland. Derartige „Herkunftsprothesen“ (Bezug auf den französischen Philosophen Jacques Derrida; Anm. d. Red.) ergeben überhaupt keinen Sinn.

    Wie sollte der Begriff Integration Ihrer Meinung nach verstanden werden?

    In Deutschland leben fast 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die Hälfte davon mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft. Deutschland ist längst ein Migrationsland und daher muss es sich folgerichtig als ein solches verstehen, um die richtigen Konsequenzen und Maßnahmen zu ziehen. Eine davon ist: Nicht nur die Leute, die kommen, sondern auch wir als Deutsche müssen uns integrieren – eine gegenseitige Integration also.

    Anerkennung spielt hierbei eine wichtige Rolle. Wenn man nicht akzeptiert wird, ausgegrenzt und diskriminiert wird, kann man sich auch nicht zu dem Land, in dem man neu ist, bekennen. Wie soll man sich da zugehörig fühlen? Nicht der Pass, nicht die Sprache wird einem Menschen das Gefühl geben, dazu zu gehören. Sondern die Emotion verbunden mit der ‚sozialen Interaktion‘ mit anderen. Diese Faktoren sollten viel stärker in den politischen Diskurs eingehen.

    Im Deutschen wird der Begriff „Heimat“ vor allem im Singular benutzt.  Was sagt das über unsere Auffassung von diesem Wort aus?

    Für die Mehrheit der Menschen ist Heimat ein ganz klar definierter Ort, also zum Beispiel ein Land, ein Dorf oder eine Stadt. Zunehmend gibt es aber auch eine andere Bedeutung von Heimat. Viele Menschen verstehen darunter mehrere Orte. Heimat ist also nicht unbedingt der Ort, an dem man geboren ist, sondern der Ort, an dem man sich befindet. Heimat ist etwas, das man in sich selbst trägt.

    Und das heißt nicht, dass Hybridität Ortlosigkeit oder Identitätslosigkeit bedeutet, sondern das Tragen von mehreren Identitäten und mehreren Heimaten in sich selbst.

    Wie kommen Sie zu Ihren Thesen?

    Meine Thesen fußen auf kulturwissenschaftlichen Essays, Romanen und wissenschaftlichen Texten. Außerdem beruhen sie auf Informationen, die ich in den Medien sammle, und auf Publikationen von sogenannten „Think tanks“ (Informationen von Forschungsinstituten, die auf verschiedene Regions- und Konfliktfelder spezialisiert sind; Anm. d. Red.). Meine Arbeit hat sehr wohl auch eine empirische Basis und zwar Literatur und Kultur – und ja, das ist eine empirische Basis, das möchte ich klar betonen. Ich könnte Ihnen unzählige Beispiele geben, wie philosophische oder sozialwissenschaftliche Erkenntnisse auf Kunst und Literatur fußen. Und natürlich greife ich auch auf meine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen zurück.

    Der geisteswissenschaftlichen Forschung wird oftmals vorgeworfen, subjektiv geprägt zu sein. Sie beschäftigen sich als weißer Mann mit Migration. Inwiefern reflektieren Sie ihre eigene Position bezogen auf Ihre Forschung?

    Das ist eine schwierige Frage (denkt lange nach).

    Als Weißer, der aus einer okzidentalen christlichen Kultur kommt und in Deutschland sozialisiert wurde, denke ich, dass ich bestimmte Phänomene leichter beschreiben kann, zum Beispiel Migration, Ausgrenzung oder das Problem der Identität, weil ich nur marginal davon betroffen worden bin.

    Ich möchte Ihnen Recht geben: Ja, mein männliches Dasein prägt mein Schreiben und dessen muss man sich bewusst sein. Das, was ich sage, ist immer eine Sache des Augenblicks. Es ist evident, dass jeder seine Perspektive hat. Ich versuche, auch die Position von Frauen beim Schreiben immer klar im Kopf zu haben. Ich war schon immer gegen das Patriarchat und diskursive Machtstrukturen. Außerdem war und bin ich schon immer gegen einen patriarchalen und männlichen Diskurs gewesen; ob mir das gänzlich gelungen ist, müssen andere beurteilen.

    Welche Aufgabe hat die Geisteswissenschaft? Wie viel Einfluss kann und sollte sie Ihrer Meinung nach auf Politik nehmen?

    Eine Welt ohne Geisteswissenschaften ist wie ein Körper ohne Lunge. Die Rolle der Geisteswissenschaften besteht in der Fähigkeit, einzelne gesellschaftliche Phänomene zu interpretieren, zu Lösungen beizutragen und Probleme zu erörtern. Von der Behauptung, die Geisteswissenschaften wären realitätsfern, halte ich nichts. Für die unabhängige Formulierung von gesellschaftlichen Problemen und damit auch für Konfliktlösungen beispielsweise sind Geisteswissenschaften absolut notwendig.

     

    Fotos: Annika Seiferlein

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