• Menü
  • Film
  • „Ihre Bücher sind wie Therapie“

    Was wissen Jugendliche über Leben und Literatur? Der Eröffnungsfilm des Dokumentarfilmfestivals Leipzig 2025 „Writing Life – Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students“ zeigt: so Einiges.

    Was ist ein Portrait ohne das Gesicht der Portraitierten? Die französische Drehbuchautorin und Filmemacherin Claire Simon zeigt in ihrem Film über die französische Schriftstellerin Annie Ernaux „Writing Life – Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students“, dass es funktioniert. Sie lässt Schüler*innen über das Lebenswerk von Ernaux sprechen, lässt sie Ernaux‘ Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die unter die Haut geht.

    Im französischen Klassenzimmer. Foto: Claire Simon

    Sprung in den Kinosaal des Cinestar im Leipziger Stadtzentrum: rote Kinosessel, rote Jutebeutel mit der Aufschrift „Packed with Films“, Limoflaschen und Popcorn auf den Armlehnen abgestellt. Gelächter, Gewusel, gespannte Ungeduld. Dann endlich: die Moderatorin Julia Weigel und der Festivalleiter Christoph Terhechte treten mit einer Begrüßungsrede vor das Publikum. Das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm – das DOK Leipzig – beginnt.

    Der Film „Writing Life – Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students” ist der Eröffnungsfilm des diesjährigen DOK. Vom 27. Oktober bis 02. November wurden in den Leipziger Kinosälen 252 Dokumentarfilme gezeigt und das Publikum zu Diskussionen mit den jeweiligen Filmemacher*innen eingeladen.

    Schon die Eröffnungsveranstaltung findet großen Anklang bei einem filmbegeisterten Publikum aus aller Welt: Von den Sitzreihen sind von italienisch über japanisch, englisch und russisch unzählige Sprachen zu hören. So springen auch Weigel und Terhechte in ihren Ansprachen zwischen deutsch und englisch hin und her. Terhechte leitet den Film dieses Abends ein mit den Worten „Dieses Werk zeigt unermesslichen Wert von Kultur, zeigt, wie viel das Geschriebene mit dem eigenen Leben eines Jeden zu tun hat, wie die Kunst den Menschen formt.“

    Seine Worte treffen es auf den Punkt. Viele Werke von Annie Ernaux sind stark autobiographisch geprägt: Sie erzählt aus ihrer Zeit als Jugendliche im Feriencamp, von ihrer Ehe, einer Affäre mit einem jungen Mann, ihrer Abtreibung. Die Kunst von Ernaux formt.

    Regisseurin Claire Simon beim DOK. Foto: Susann Bargas Gomez

    Die Regisseurin Claire Simon ist ebenfalls vor Ort. Mit kariertem Anzug, rötlichen Haaren und dicker, schwarzer, wahnsinnig modischer Brille tritt die Französin vor die Leinwand und erzählt, was sie zu dieser Dokumentation bewegt hat. Sie sei gebeten worden, ein Portrait der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux zu drehen. „Ich liebe ihre Bücher, also sagte ich sofort ja“, sagt Simon. Aber es habe schon so viele Portraits gegeben. „Es braucht nicht noch eine langweilige Biografie.“ Nein, sie wolle etwas festhalten, das andere Filme nicht zeigen: das Gefühl, mit dem man Ernaux liest. Also fuhr sie durch ganz Frankreich, stellte ihre Kamera in Klassenzimmern auf und lies die Schüler*innen vorlesen, kritisieren, zustimmen, fühlen.

    Im Film sehen wir Jugendliche, wie sie ihre eigenen Erfahrungen in den Erzählungen von Ernaux als junges Mädchen wiederfinden. Ob man Ernaux‘ Bücher selbst gelesen hat oder nicht – die Themen, über die sie diskutieren, bewegen das Leben eines Jeden. Es geht um Angst vor der Zukunft, vor einer Ehe voller innerer Konflikte, Affären, Zerrissenheit wie Ernaux sie führte und in ihrem Film „Die Super-8-Jahre“ (Und es geht um Klassenkampf, die Macht von Sprache und die Frage: Wann ist Liebe zu viel? Eine Schülerin sagt: „Annie Ernaux Bücher zu lesen – das ist wie Therapie.“

    Simon fängt all das ein. Und die Idee, ausgerechnet die Gedanken von Oberstufenschüler*innen festzuhalten, ist genial. Sie haben eine einzigartige Perspektive, befinden sich in einem Lebensabschnitt von so viel Emotion und so wenig Lebenserfahrung. Ihre Rezeption von Ernaux‘ Lebenswerk ist pur – und daher so berührend.

    Titelbild: Susann Bargas Gomez

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Unterschätzt, aber unentbehrlich

    Die Zahl der Erstis, die ein Studium der Geisteswissenschaften beginnen, ist in Deutschland rückläufig. Auch an der Uni Leipzig lässt sich das Phänomen beobachten.

    Campuskultur | 4. November 2025

    Biodiversität – das grüne Kapital einer zukunftsfähigen Wirtschaft

    Die „Hauptstadtimpulse“ der Deutschen Bundesstiftung Umwelt zeigen, dass wirtschaftlicher Wohlstand von einer intakten Biodiversität abhängig ist. Können Natur und Wirtschaft langfristig koexistieren?

    Klima | 15. November 2025