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  • Über Grenzen hinweg tanzen

    Tanz, Musik und Geschichten verschmelzen zu einem Abend voller Begegnung. Bei „Dancing with Our Neighbours“ wird Leipzigs Festivalbühne zum Ort von Austausch, Nähe und gemeinsamen Momenten.

    Vom 16. bis 25. Oktober 2025 fand das zwölfte Festival Politik im freien Theater in Leipzig  statt. Mit 16 ausgewählten Gastvorstellungen und rund 150 Veranstaltungen rückte das diesjährige Festivalmotto „Grenzen“ in den Mittelpunkt. Eröffnet wurde das Festival mit der Aufführung „Dancing with Our Neighbours“ (Tanzen mit unseren Nachbarn) der deutsch-britischen Performancegruppe Gob Squad in der temporären Spielstätte ag(o)ra des Schauspiels Leipzig. Taktgebend für das ganze Festival war die erste Show. Sie fragte, was passiert, wenn wir kulturelle und soziale Grenzen überschreiten – oder besser gesagt, wenn wir über sie hinwegtanzen.

    Die deutsch-britische Performancegruppe Gob Squad, die seit 1994 in Berlin arbeitet,  präsentierte „Dancing with our Neighbours“ erstmals im Mai 2024 in Berlin-Kreuzberg anlässlich ihres 30-jährigen Jubiläums in Zusammenarbeit mit dem freien Theater Hebbel am Ufer (HAU). Für Leipzig entstand nun eine erste lokale Adaptation speziell für das Festival. Mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung wurde dafür eine Kooperation zwischen verschiedenen Theatern in Leipzig geschaffen. Bereits im Juni dieses Jahres lud Gob Squad im Theater Lofft zu zwei kostenlosen Workshops zu Tanz und Storytelling ein. Aus den Teilnehmenden wurden schließlich sechs Personen ausgewählt, die an der Abschlussaufführung auf dem Festival mitmachen konnten. So trat auf der Bühne ein Ensemble aus sechs Leipziger*innen mit Migrationshintergrund und vier Gob-Squad-Performer*innen auf.

    Die multikulturelle und mehrsprachige Gruppe erzählt, tanzt und inszeniert auf der Bühne ihre persönlichen Geschichten, Gedanken und politischen Positionen. Wer mit einem bestimmten Ausdruck einverstanden ist, tanzt mit. In der Mitte der Bühne steht ein Mikrofon, das die Schauspieler*innen nacheinander ergreifen, um eine bestimmte Aussage oder Meinung zu äußern. Dann schaltet der DJ Musik ein, die von Disco, Techno und bekannten Pop-Hits bis hin zu traditionellen Melodien, Fremdsprachen und Rock reicht. Die Person, die gesprochen hat, setzt diese Aussage in Bewegungen um. Alle anderen, die zustimmen, folgen dem Tanz.

    Trotz der einfachen Räumlichkeiten der ag(o)ra und der minimalistischen Ausstattung befinden sich Kameras vor, hinter und über der Bühne. Sie zeigen das Geschehen live auf einem Bildschirm auf der Bühne hinter. Gelegentlich wird ein Bildvervielfachungseffekt eingesetzt, der die Szene bizarrer erscheinen lässt. Eine Kamera vor der Bühne ist zwischen Ästen positioniert und schafft so einen subtilen Natureffekt. Der Bildschirm erfüllt zudem auch eine praktische Funktion: Auf ihm werden die gesprochenen Texte der Schauspieler*innen angezeigt.

    Performer*innen in Aktion. Foto: Dorothea Tuch

    Und was ist mit der Sprachbarriere? Sie wird nicht nur durch die universelle Sprache des Tanzes überbrückt, sondern auch ganz praktisch: Neben Deutsch kommen  auf der Bühne auch Englisch und Ukrainisch zum Einsatz. Zwei ukrainische Übersetzerinnen begleiten die Performance live und übertragen kurze Sätze in drei Sprachen, die zusätzlich auf dem Bildschirm mitgelesen werden können.

    Auch wenn die Tanzpassagen improvisiert wirken, folgt die Performance einer klaren Struktur. Sie ist in mehrere Teile gegliedert, die jeweils mit einem autobiografischen Monolog der Schauspieler*innen abgeschlossen werden. Dabei bleiben die Sprecher*innen allein auf der Bühne, um ihre Geschichte zu erzählen. Rückblicke auf das Leben in der DDR und nach ihrem Zusammenbruch, eine bewegende Geschichte über die Totgeburt eines Kindes, der Verlust der Eltern durch einen Unfall und die Bedeutung heimischer Gerichte für einen Menschen. All das weckt Emotionen, unabhängig davon, in welcher Sprache erzählt wird.

    Die Aufführung verwischt die Grenze zwischen Bühne und Publikum. Anfangs treten nur die Performer*innen auf, aber auch die Zuschauer*innen werden zur aktiven Teilnahme eingeladen. Vertreter*innen der Kulturszene und der freien Theaterszene Leipzig nutzen diese Gelegenheit, um zu appellieren: „Wir arbeiten im Kulturbereich und werden oft unterbezahlt“ und „Wir halten die aktuellen Kürzungen im Kulturbereich für eine Schande und für sinnlos“. 

    „Wir trinken Kaffee, Tee und Zucker“, „Wir würden Männern gegen Bezahlung ins Gesicht pinkeln“, „Unsere Großeltern waren Nazis“, „Wir vermissen unsere Familienmitglieder in den Kampfgebieten“ – diese und andere Äußerungen der Performer*innen führen zu einem Zusammenspiel von Chaos und Balance zwischen eher alltäglichen, scherzhaften und politisch oder emotional aufgeladenen Äußerungen. Das Publikum erlebt dadurch ein breites Spektrum an Gefühlen: Die Bühne wird zu einem Ort gemeinsamer Trauer, Aggression und Heiterkeit. Gleichzeitig entsteht ein demokratischer Raum, in dem jede Meinung, jede Position und jede persönliche Geschichte Platz findet – eine Praxis, die eine tolerante, inklusive Community formen kann. Das zentrale Anliegen des Abends ist klar: „Unterschiede zu feiern“, dabei aber auch einander kennenzulernen und näher zusammenzukommen.

    Der Schlussakkord – und zugleich das Symbol für gemeinschaftliches Verständnis – ist die Einladung aller Zuschauer*innen auf die Bühne für einen gemeinsamen Tanz. Das Publikum folgt ohne Zögern. Ein typischer Club-Song setzt ein, Licht- und Raucheffekte erfüllen den Raum und es wird spürbar: „Wir müssen einfach tanzen“.

    Titelbild: vk

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