In der Schmiede
Zur Mündigkeit verurteilt: Ein orientierungsloser Student über die Privilegien und Probleme gnadenloser Selbstbestimmung.
Am Freitagabend, wenn sich alle Welt vorfreudig auf das Wochenende einstimmt, wenn das Studierendenvolk, dem Ruf des 1-Euro-Glühweins folgend, zum Späti pilgert, sitze ich auf einem mäßig bequemen Stuhl im Raum 228 des Seminargebäudes am Campus Augustusplatz und werde in die Grundlagen des sprachwissenschaftlichen Arbeitens eingeführt. Wie ich dort gelandet bin? Ich habe die Deadline zur Moduleinschreibung verpasst, die zwölf anderen Seminartermine waren voll belegt, ich bin auf der Resterampe gelandet. Nun ist die Sitzung am Freitagabend ein Mahnmal für meine Unfähigkeit, mich zu organisieren.
Schule bedeutet Struktur. Als Schüler*in ist man daran gewöhnt, unverantwortlich zu sein. Der Tag ist fein säuberlich durchgetaktet. Wann du isst, lernst, feierst, schläfst – alles zu seiner Zeit. Lehrer*innen und Eltern kontrollieren stetig das Weiterkommen und greifen ein, falls etwas schiefläuft. In diesem Sinne ist die Schulzeit recht gemütlich, man befindet sich in einem Status der komfortablen Unmündigkeit, in dem man bloß mit dem vorgegebenen Strom zu schwimmen braucht. Doch irgendwann findet der Strom sein Ende. Dann spuckt er einen aus und man sitzt ein wenig verwirrt davor und fragt sich, wie es jetzt weitergehen soll.
Plötzlich wird einem das Privileg zuteil, sich frei bestimmen zu dürfen. Plötzlich gehen tausend Türen auf. Und plötzlich muss man Entscheidungen treffen.
Der alte Satz „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“, heutzutage absolut zu Recht für seine Ignoranz gegenüber Glück, Pech, sozialer und postkolonialer Ungerechtigkeit kritisiert, erscheint mir in Bezug auf den Unialltag recht passend. Salopp würde man wohl sagen: „Von nüscht kommt nüscht“. Leider ist es so viel einfacher, „nüscht“ zu tun, so viel bequemer, sich mit dem Naheliegenden zufrieden zu geben. Schmieden erfordert Genauigkeit, Geduld, Kontinuität, Beharrlichkeit, all diese mühsamen Dinge. Und wenn man dann nicht einmal sicher ist, was man eigentlich schmieden möchte, wie das eigene Glück aussehen soll, wird es kompliziert.
2024 stand ich mit meinem Abitur an der Schwelle zu einer riesigen bunten Welt und wusste nicht so recht, wohin mit mir. Nun bin ich in Leipzig, studiere Germanistik und frage mich ehrlicherweise manchmal, was ich hier eigentlich tue.
Nichtsdestotrotz müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Freiheit, die wir genießen, ein unfassbares Privileg ist. Die Möglichkeit, das eigene Leben so zu gestalten, wie es einem gefällt, ist besonders. Philosoph*innen zerbrechen sich seit jeher die Köpfe darüber, wie mit diesem Privileg umzugehen ist. „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“, sinnierte schon Sartre. Sich seiner Chancen nicht zu bedienen, wäre Verschwendung. Also schmieden wir alle fleißig, auch wenn es manchmal anstrengend ist, wenn es nicht immer klappt oder wenn man am Freitagabend im Seminarraum sitzt, während draußen das Wochenende beginnt.
Titelbild: Henning von Wulffen
		
		
			
		
		
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