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  • Was heute bürgerlich ist

    Sonntagsbraten und Eigentumswohnung – war das mal bürgerlich? Und was geht uns das an?

    Wenn ich an das Wort „bürgerlich“ denke, sehe ich ein Reihenhaus mit Kirschbaum im Vorgarten, die FAZ auf dem Küchentisch, und jemanden, der das Wort „anständig“ in einem Tonfall sagt, der keine Widerrede duldet. Bürgerlich war mal eine Lebensform: die solide Mitte, irgendwo zwischen aufstiegsorientiert und ordnungsversessen, geprägt von Fleiß, Bildung, Sparsamkeit – und dem tiefen Wunsch, dass alles so bleibt, wie es ist. Aber was ist heute bürgerlich, in einer Zeit, in der alles gleichzeitig flüssig und brüchig scheint?

    Ist bürgerlich noch ein Lebensstil – oder eher eine Haltung?

    Die heutigen Bürgerlichen essen Hafermilch-Porridge, trennen Müll in fünf Kategorien, haben Klimasorgen und ETF-Sparpläne. Sie tragen Cord statt Krawatte, surfen politisch zwischen grün und sozialliberal, und folgen auf Instagram einem Mix aus Hannah- Arendt-Zitaten, skandinavischem Interieur und dem „Zeitmagazin Wochenmarkt“-Kochaccount. Sie meiden Extreme – nicht, weil sie nichts zu sagen hätten, sondern weil sie Harmonie mehr schätzen als Polarisierung. Man könnte sagen: Das neue Bürgerliche ist das reflektierte Sowohl-als-auch.

    luhze-Redakteurin Greta Eising

    Warum gerade diese neue Mitte?

    Weil sie über das verfügt, was Bürgerlichkeit immer ausgemacht hat: Bildung, Sicherheit, Wahlmöglichkeiten. Nur werden diese heute anders genutzt. Nachhaltigkeit ersetzt Statussymbole, ETF-Apps den Bausparvertrag, Second-Hand die Maßanfertigung. Diese Mitte sucht Halt im Bewusstsein statt im Besitz – Stabilität ohne Stillstand, Ordnung mit gutem Gewissen. Das ist die moderne Form eines alten Bedürfnisses: das eigene Leben vernünftig, verantwortungsvoll und zugleich offen zu gestalten.

    Aber ist das nicht einfach nur akademisch gebildete Mittelklasse mit Gewissensbiss?

    Vielleicht. Vielleicht ist das neue Bürgertum eine ironisch distanzierte Version des alten: Die Freiheit, zwischen Second-Hand-Konsum und Eigentumserwerb zu wählen, ist ein Privileg. Aus Überzeugung auf Fleisch zu verzichten, ist leichter, wenn man die Wahl hat. Und politisch gesehen? Bürgerlich zu sein heißt heute oft, sich gegen Extreme zu stellen – sowohl gegen rechte Radikale als auch gegen hypermoralische Cancelkultur. Die Mitte lebt. Aber sie ist unsicherer geworden, tastender. Weniger selbstgewiss.

    Was hat das mit uns Studierenden zu tun?

    Vermutlich mehr, als wir denken wollen. Auch wir sind auf der Suche nach Stabilität im Fluiden: Wohnheimplätze statt Eigenheime, Bafög statt Aktien – und trotzdem träumen viele von genau dem, was bürgerlich einst versprach: Sicherheit, Bildung, Anerkennung. Nur dass heute niemand mehr so recht zugeben will, „bürgerlich“ zu sein. Es klingt nach Stillstand, nach Kompromiss, nach politischer Unschärfe. Aber vielleicht ist genau das das bürgerlichste am 21. Jahrhundert: sich unwohl zu fühlen mit Kategorien – und trotzdem Teil von ihnen zu sein.

    Bürgerlich? Wahrscheinlich sind wir’s längst – nur ohne die alten Gewissheiten.

    Titelbild: erstellt mit Stable Diffusion

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