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  • Bring back the Thought Daughter.

    Die Aufmerksamkeitsspanne wird kürzer, die Welt nicht weniger komplex: Es braucht neue und alte Wege, um sich im Internet zurecht zu finden. Wie Lesen und Lernen im digitalen Zeitalter aussehen kann. 

    Thought Daughter, Dark Academia, Rory Gilmore-Era, BookTok – wer selbst Social-Media-Plattformen wie Instagram benutzt, wird sich möglicherweise noch an diese Trends erinnern. Sie haben eine Gemeinsamkeit: Sie ästhetisieren das Lesen von Büchern, besonders von „Klassikern“ der (westlichen) Literatur und Philosophie. Es sind meist junge Frauen, die ihre Zeit vor allem in Bibliotheken oder Cafés verbringen, um zu lesen, sich zu bilden und nachzudenken. Der Trend hat Wellen geschlagen – zum Beispiel mit Buchclubs bekannter Persönlichkeiten wie Dua Lipa, Kaia Gerber und Reese Witherspoon. Auf BookTok, einer Kombination von book und TikTok, gibt es Buchempfehlungen für jede Lebenssituation, jedes Sternzeichen und jeden Lieblingsfilm.

    Lesen ist sexy: Das haben auch die männlichen Nutzer der Plattformen erkannt und sich dem Trend mit stylischen Vorbildern wie Jacob Elordi und Harry Styles angeschlossen. Derzeit gibt es immer häufiger Videos, die junge Männer zeigen, die nur vorgeben zu lesen, um attraktiver zu erscheinen. Der performative reader oder performative male trägt Perlenkette, weitgeschnittene Hosen, Nagellack und natürlich ein Buch in der Hand oder Hosentasche à la Jacob Elordi. Schade eigentlich, dass der ursprüngliche Trend, zu lesen und sich weiterzubilden, zu einem Trend geworden ist, der Männern ihr tatsächliches Interesse an Literatur und Kultur abspricht und es ironisiert. Dabei schien der ursprüngliche Hype auf Bücher einen Nerv zu treffen: eine lang ersehnte Alternative zum stundenlangen Scrollen und eine potenzielle Heilung für die verkürzte Aufmerksamkeitsspanne.

    Ein Kompass für Soziale Medien

    Warum oder was jemand liest, sollte eigentlich egal sein. Viel wichtiger ist, dass überhaupt gelesen wird. In einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne sinkt und der Gebrauch von ChatGPT für viele zum Alltag (und Studium) gehört, darf das Bilden von eigenen Gedanken und Meinungen nicht verlernt werden. Lesen, Schreiben und Lernen sind grundlegend für Literalität. Ein Begriff, der einerseits die Fähigkeit meint, lesen und schreiben zu können, und andererseits die gesellschaftlichen und kulturellen Kompetenzen, die damit einhergehen, dass in Texten gespeichertes Wissen durch das Lesen erschlossen und angewendet werden kann. Wir brauchen Literalität, um am Gesellschaftsleben teilnehmen zu können, aber auch für eine politische Teilhabe in einer Demokratie. Literalität kann den Umgang mit bildungssprachlichen Inhalten wie Zeitungen und Nachrichten erleichtern, kritisches Denken fördern und das Interesse an politischer Partizipation erhöhen. 

    Sich den Weg durch Social Media zu bahnen, kann überfordernd wirken: Bilder schrecklicher Kriege und Genozide vermischen sich mit Tipps zur Selbstoptimierung, politischer Aufklärung, Katzenvideos und Kochanleitungen in meinem Feed – eine Informationsmenge, die in ihrer Kurzweiligkeit mehr Fragen aufwirft, als dass sie diese beantworten könnte. Das ist Teil der Demokratisierung von Wissen, die auf diesen Plattformen stattfindet. Literalität (und auch Medienkompetenz) kann dabei ein entscheidender Kompass sein, zwischen Unterhaltung, politischer Aufklärung und Falschinformationen unterscheiden zu können.

    Ausflug in den digitalen Garten

    Ich habe in diesem Jahr immer wieder gemerkt, dass sich mein Instagram-Konsum oft schlecht anfühlt – und trotzdem konnte ich mich nicht lösen. Dabei hat sich das Internet früher wie ein zweites, sehr großes Wohnzimmer angefühlt – besonders YouTube war für mich ein Rückzugsort, um Neues zu lernen, inspiriert und unterhalten zu werden. Vor ein paar Monaten habe ich die Video-Essays von Anna Howard auf YouTube entdeckt, die sich genau wie dieses „Wohnzimmer“ anfühlen. In einigen ihrer Beiträge spricht sie über autodidaktisches Lernen und das Konzept der „research as leisure activity“. Eine Recherche, die den eigenen Interessen und Fragestellungen folgt und versucht, Antworten zu finden. Eine eigene Forschung, die von akademischen Standards losgelöst ist und auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichen, aber vor allem internetbasierten, Ressourcen umgesetzt werden kann. Um in dieser Recherche nicht den Überblick zu verlieren, hat sie angefangen, einen „Digital Garden“ aufzubauen. 

    Im „Digital Garden“ können potenziell alle Medien, die konsumiert werden, anhand von Notizen und Gedanken festgehalten und miteinander thematisch verknüpft werden. Daraus entsteht eine Art Mindmap, die zu einem Thema ganz verschiedenes Material zusammenführt und neue Verbindungen herstellen kann – ähnlich wie bei einem Wikipedia-Eintrag, bei dem Nutzende über Hyperlinks weitere, zum Thema passende Einträge aufrufen können. Treibende Kraft soll dabei die eigene Neugier sein, die Weiten des Internets sind der Spielplatz. Nach dem Vorbild richtiger Gärten wird die digitale Form sich immer weiterentwickeln, wachsen und nie wirklich perfekt sein. Die Idee ist, sich einen eigenen kleinen Internet-Kosmos zu bauen, ein eigenes kleines Wohnzimmer im Netz. Dafür werden verschiedene Plattformen genutzt – etwa Notion, Obsidian oder Sublime. Es ist aber theoretisch auch möglich, das Ganze in einer Notizen-App aufzubauen. 

    Autorin Rosa hat sich dafür entschieden, mit dem digitalen Gärtnern zu beginnen. Foto: privat.

    Der digitale Garten ist für mich aus verschiedenen Gründen hilfreich, auch wenn er derzeit noch recht klein und unkultiviert ist. Zum einen motiviert er mich zum Selbststudium, aber vor allem zum Lesen und Schreiben. Zum anderen sind digitale Medien und Inhalte fester Bestandteil meines Alltags – im digitalen Garten kann ich all diese verschiedenen Medien, selbst die lustigen Memes und tiefsinnigen Tumblr-Einträge, an einem Ort versammeln. Das, was ich konsumiere, und das, was ich darüber denke, kann ich dort anlegen und daraus Neues erwachsen lassen. 

    Für viele, mich eingeschlossen, werden soziale Medien und KI-Tools weiterhin zum Leben dazugehören. ChatGPT kann viele Aufgaben abnehmen, aber es lohnt sich, zu reflektieren, welchen Gedanken- oder Schaffensprozess wir dabei abgeben. Auch Instagram nutze ich noch, aber mein Umgang mit der Plattform hat sich verändert. Ich möchte verstehen, was mir gezeigt wird, und habe gemerkt: Dafür braucht es meist längere Formate, die der Komplexität gerecht werden. Die Denkanstöße von Plattformen wie Instagram können in meinem digitalen Garten weiterleben und vertieft werden. In der Entscheidung, bewusster und weniger (kurze Inhalte) zu konsumieren, habe ich ein Gefühl der Kontrolle und Autonomie zurückerlangt. 

    Es gibt viele Gründe, um zu lesen und sich weiterzubilden: Vor allem aber macht es uns resilienter und sensibler, wenn es darum geht, Informationen, Perspektiven und Meinungen einzuordnen und zu bewerten. Selbst wenn wir Lesen und Lernen ästhetisieren, darf es nicht zu einem Luxus werden, der es nur einer Elite ermöglicht, sich weiterzubilden. Bildung und der Zugang zu Bildung ist ein dauerhaft bedrohtes Gut, das geschützt werden muss. Der „Digital Garden“ kann dabei eine Möglichkeit sein, die Niedrigschwelligkeit des Internets zu nutzen, um sich Wissen anzueignen und die Welt ein bisschen besser verstehen zu können. 

    Für mehr Einblicke in das „Digital Gardening“ kann ich die Beiträge von Anna Howard oder diesen Überblicksartikel von Maggie Appleton empfehlen.   

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