„Um mehr von Menschen zu verstehen“
Die Professorin und Autorin Ulrike Draesner im Interview über die politische Kraft von Literatur, polyglotte Poetik und posttraumatische Heldenreisen.
Ulrike Draesner, geboren 1962 in München, schreibt Lyrik, Romane und Essays – auf Deutsch wie auf Englisch. Zuletzt wurde sie mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet. Seit 2018 lehrt sie als Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Im Interview mit luhze-Redakteurin Greta Eising spricht Ulrike Draesner über Sprachlust, das Politische im Schreiben – und darüber, warum sie als Kind um eine Bibliotheksmitgliedschaft betteln musste.
luhze: Frau Draesner, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie mit dem Schreiben begonnen haben?
Draesner: Und wie. Ich wollte mit vier unbedingt lesen und schreiben lernen, aber meine Mutter ließ mich nur die Buchstaben meines Namens üben. Ich bin Linkshänderin, musste aber mit rechts schreiben – der Einstieg ins Schreiben war also voller Hürden. Aber Sprache und vor allem fremde Sprachen haben mich schon vorher fasziniert. Ich klebte am Radio. Als ich dann endlich lesen durfte, war das wie eine Befreiung. Ich wuchs in einem bildungsfernen, gewaltgeprägten Elternhaus auf – Sprache, Bücher, Bildung waren mein Ausweg. Ein Jahr lang bettelte ich bei meiner Mutter um eine D-Mark, um Mitglied in der Dorfbibliothek zu werden. Als ich sie bekam, war das eine Erlösung. Ich schleppte die dicksten Bücher nach Hause – darunter auch Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums. So lernte ich Odysseus und Penelope kennen.
Sie haben zunächst Jura studiert. Wann wurde aus dem Schreiben Berufung?
Nach einem Stipendienjahr in England hatte ich den Mut zu sagen: Ich bin jemand anderes. Ich habe dann Anglistik, Philosophie und Germanistik studiert – und heimlich zu schreiben begonnen. Die Fremdspracherfahrung hat mir einen produktiven Abstand zur deutschen Sprache verschafft. Ich kam zurück, und die deutschen Wörter schauten fremd auf mich zurück. Unter der einen Sprache lag eine andere. Das setzte das Erfinden in Gang.
Sie arbeiten auch auf Englisch. Wie verändert das Ihr Schreiben?
Es verändert alles daran: Rhythmus, Denkweise, Bilder, sogar Erinnerungen. Wenn ich auf Englisch schreibe, schreibe ich langsamer, bewusster – mit einem anderen Ohr. Mein Roman Schwitters existiert deshalb in zwei sehr verschiedenen Versionen: Die deutsche spielt in mehreren Ländern, die englische fast nur in England. Auch das Ende ist anders. Sprache formt Erinnerung, Perspektive, Haltung. Sie ist niemals nur Medium, sondern immer Mitgestalterin. Ein Kritiker erfand, um mein Schreiben zu fassen, den Begriff „polyglotte Poetik“. Das trifft es im Kern.
Studierende kennen Sie durch Ihre Arbeit am Literaturinstitut. Was zeichnet die Ausbildung hier aus?
Dass wir im kleinen Kreis arbeiten. Ich habe momentan sieben Studierende im Master. Jeder Text wird zweimal im Semester ausführlich besprochen – das geht nur in dieser Intensität, wenn man wirklich Zeit füreinander hat. Es ist ein Raum, um zu wachsen – durch Reibung, durch Austausch, durch Lob und Kritik. Und natürlich: durch Lesen.
Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Begabung, die alle Studierenden mitbringen?
Nein, das wäre ja furchtbar. Es gibt keine Norm. Die Menschen, die hierherkommen, sind sehr unterschiedlich – in Alter, Herkunft, Interessen. Was wir suchen, ist eher eine Art Unbedingtheit, ein eigener Ton. Man braucht auch eine Portion Mut, um sich auf diese Reise ins Schreiben zu begeben.
Was raten Sie jungen Schreibenden, die nicht am Deutschen Literaturinstitut Leipzig aufgenommen wurden?
Es gibt viele andere Wege. In Leipzig zum Beispiel die Textmanufaktur. Auch andere Schreibschulen – Hildesheim, Köln, Biel, Wien. Wichtig ist: nicht aufzugeben. Und sich Feedback zu holen. Das hilft, herauszufinden, ob man mit Kritik und Druck umgehen kann. Bewerbungen am Deutschen Literaturinstitut Leipzig sind mehrfach möglich. Viele werden beim zweiten oder dritten Versuch aufgenommen.
Sie arbeiten gerade an einem neuen Buch. Worum geht es?
Im August erscheint mein Retelling von Penelope. Penelope ist die Ehefrau von Odysseus in Homers Odyssee – eine der zentralen, aber passiv gezeichneten Frauenfiguren der Antike. Schon als Kind hat mich das Frauenbild in der Odyssee geärgert. Ich fand Odysseus spannend – ein Held mit Gehirn statt nur Muskeln. Aber die Frauenfiguren? Brav gemacht. In meinem Buch verlassen Penelope und hundert Frauen Ithaka und gründen eine neue Stadt. Auch die sogenannten „Mägde“ – in Wahrheit Sklavinnen – bekommen Stimmen. Ein neues Modell des Zusammenlebens muss erfunden werden.
Gibt es Themen, die Sie bewusst früh aufgegriffen haben, obwohl sie gesellschaftlich noch kaum diskutiert wurden?
2002 habe ich Mitgift veröffentlicht, einen Roman über eine intersexuelle Person. Damals konnte in Deutschland kaum jemand mit dem Thema umgehen. Auch mein Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt über intergenerationelle Traumata infolge von Krieg und Zwangsmigration traf 2014 auf wenig Verständnis – obwohl die Forschung dazu im englischsprachigen Raum längst präsent war.
Wie politisch muss Literatur heute sein?
Gute Literatur ist immer politisch – allein schon, weil sie mit Sprache arbeitet. Und Sprache ist nie neutral. Wer literarisch arbeitet, greift in Wahrnehmungsmuster ein. Wenn ein Text die Klimakatastrophe thematisiert oder Identitätssuche beschreibt, ist das nicht politisch im agitatorischen Sinne, aber gesellschaftlich höchst relevant.
Was würden Sie sich vom Literaturbetrieb wünschen?
Ein Bewusstsein dafür, dass Literatur nicht nur Marktware ist. Der Neoliberalismus drängt das, was ich „Literatur-Literatur“ nenne, zunehmend in eine Nische. Also Texte, die ästhetisch anspruchsvoll, kritisch, sprachreflektiert sind. Sie bieten Widerstand gegen vorschnelles Verstehen, sie lehren uns, mit verschiedenen Realitäten umzugehen und Widersprüche auszuhalten. Literatur schult unsere Wahrnehmungsfähigkeit und ist ein exzellentes Mittel, politische Mündigkeit zu fördern.
Wie definieren Sie die Rolle von Sprache in diesem Zusammenhang?
Sprache ist ein Machtinstrument – sie kann manipulieren, verschleiern, verführen. Und sie kann befreien. Literatur vermittelt hermeneutische Kompetenz: die Fähigkeit, komplexe Texte und damit auch gesellschaftliche Narrative zu durchdringen. In einer Welt voller Fake News ist das essenziell. Wer Sprache durchschaut, wird schwerer verführbar.
Jedes meiner Bücher hat einen eigenen Ton. Ich versuche, so zu schreiben, dass ein Leben, eine gesellschaftliche Konstellation, lebendig in Sprache erscheinen kann. Diese Arbeit erfordert Genauigkeit, Erfindungskraft, Recherchen und ein Quantum X – das ich nicht genauer beschreiben kann. Für mich sind Lesen und Schreiben Wege, mehr von Menschen zu verstehen und das mit anderen zu teilen. Psychologie, Biologie, Geschichte, Sprachwissen – all dies kommt zusammen.
Wie gehen Sie mit Künstlicher Intelligenz im Literaturkontext um?
KI ist für mich ein spannendes Werkzeug – künstlerisch wie praktisch. Ich nutze sie für Recherchen oder Grammatikfragen, aber auch experimentell, etwa um KI-generierte Texte selbst zu simulieren oder Text- und Bildsysteme miteinander zu verknüpfen. Dabei entstehen witzige Glitches und literarische Reibungspunkte. Gleichzeitig zeigt KI, was an Sprache mechanisch ist – und was tief menschlich bleibt. Ein ästhetisch und politisch hochrelevantes Feld.
Zum Schluss: Haben Sie eine Buchempfehlung?
Sehr gern: Alles von Toni Morrison und Virginia Woolf.
Foto: Mellie Wang


Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.