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  • „Ich glaube nicht an statische Identitäten“

    Ronya Othmann ist Studentin, Journalistin, Preisträgerin und nun auch Romanautorin. Mit luhze hat sie über ihren Debütroman „Die Sommer“, über das Schreiben und über Identitäten gesprochen.

    Etwa einen Monat nachdem ihr Debütroman „Die Sommer“ erschienen ist, hat luhze-Redakteurin Pia Benthin die MDR-­Literaturpreisträgerin und Stu­dentin am Deutschen Literatur­institut Leipzig Ronya Othmann zum Interview getroffen. Othmann schreibt neben Lyrik, Prosa und Essays auch jour­nalistisch, zum Beispiel zu­sammen mit Cemile Sahin in der Taz-Kolumne „OrientExpress“. Im Gespräch erzählt sie von ihrem Schreibprozess, hybriden Identitäten und davon, kurdisch-ezîdisch zu sein.

    luhze: Wovon handelt dein Roman?
    Othmann: Es geht um Leyla, die in Süddeutschland aufwächst, aber die Sommer immer in Nordost-Syrien in dem kurdisch-ezîdischen Dorf ihrer Großeltern verbringt. Zwischen diesen beiden Orten pendelt sie, selbst wenn sie es nicht physisch tut, dann im Kopf. Das ist die eine Geschichte über ihre hybride Identität und die Geschichten ihrer Großmutter und ihres Vaters. Auf einer anderen Ebene geht es ums Erinnern. Was man erzählt, wenn man alles verloren hat. Wie Flucht, Trauma und Folter in der Familie weitergegeben werden und was es bedeutet, eine Minderheit zu sein, die keine Lobby hat.

    Bei der Familiengeschichte, aber auch an den Schauplätzen finden sich Parallelen zu dir. War das Absicht?
    Es ist auf jeden Fall kein Zufall. Trotzdem ist Leyla eine literarische Figur, die anders ist als ich. Teilweise gibt es aber schon Parallelen, zum Beispiel ist das Dorf dasselbe. Anders hätte ich es auch nicht beschreiben können und ich wollte kein fiktives nehmen. Auch dass Leyla in Leipzig ist, war eine pragmatische Entscheidung. Sie brauchte eine Stadt, die nicht die ist, in der sie aufgewachsen ist. Ich bin ein bisschen obsessiv: Wenn ich über Dinge schreibe, habe ich das Gefühl, ich muss richtig viel darüber wissen und mich ein wenig besser auskennen als Leyla. Der Roman ist also Autofiktion. Die Figur habe ich gebraucht, um Abstand zum Erzählen zu bekommen. Zum Schreiben braucht man diesen Abstand.

    Hast du das am Deutschen Literaturinstitut gelernt?
    Das Literaturinstitut hat mir sehr geholfen. Aber wir bekommen da keine Anleitung, niemand sagt, „so schreibt man einen Text“. Wir hatten Theorie- und Werkstattseminare, wo wir meist einen Termin im Semester hatten, zu dem man den eigenen Text rumgeschickt hat, über den wir dann gesprochen haben. Die restliche Zeit redet man über die Texte der Anderen. Das habe ich jetzt sechs Jahre im Bachelor und Master gemacht, also sehr exzessiv. Das hilft einem, den Blick auf den eigenen Text zu bekommen. Trotzdem weiß ich nicht, wie Schreiben geht. Man macht es halt einfach.

    Wann hast du angefangen, an „Die Sommer“ zu arbeiten?
    Als ich vor sechs Jahren nach Leipzig gekommen bin, um zu studieren. Eigentlich schreibt man erst im Master einen Roman und ich hatte zu dem Zeitpunkt auch gar nicht vor, einen zu schreiben. Es sollte eher Richtung Kurzgeschichten gehen. Damals war mir klar, dass das ezîdische Leben in Dörfern in Nordost-Syrien wie ich es bei meinen Großeltern kannte, zu einem Ende kam. Außerdem hatte ich diese Figur im Kopf und sie kam immer öfter.

    Hättest du dir als Kind einen Roman gewünscht, der so ist wie deiner? Also Repräsentation?
    Ich habe mich in ganz vielen Sachen repräsentiert gefühlt. Sogar in Büchern aus dem England des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen Menschen aus Standesgründen nicht heiraten dürfen und miteinander abhauen. Das kenne ich auch aus meiner Community. Oder eben rebellische Frauenfiguren. Ich habe nichts danach ausgewählt, wo ich mich selber wiedererkannt habe.
    Trotzdem fand ich es krass, bei der Schriftstellerin Karosh Taha von kurdischen Figuren, wenn auch nicht ezîdischen, zu hören und kurdische Wörter zu lesen. Auch bei den Filmen von Yılmaz Güney war das krass, Kurd*innen zu sehen. In der Türkei und Syrien war das ja verboten. Das ist dann schon noch was anderes. Da erzählt jemand unsere Geschichten, aber die sind dann nicht nur für uns, sondern für alle.

    Je nachdem für welche Zielgruppe man schreibt, muss aber entschieden werden, was erklärt werden muss und was nicht, oder?
    Genau, manchmal habe ich Sachen zu wenig erklärt und mein Lektor hat sie dann nicht verstanden. Für mich sind diese Sachen aber einfach klar gewesen. Wenn man über Deutschland schreibt, würde man ja auch nicht alles erklären. Genauso gibt es auch Sachen, die in Syrien jede*r weiß, die ich aber erklären muss, weil mein Publikum die nicht kennt. Trotzdem geht es im Roman eher darum, die Geschichte zu erzählen. Ich wollte kein Sachbuch daraus machen.

    Cover: Hanser Verlag

    Ist der Roman für dich politisch?
    Er ist nicht absichtlich politisch. Aber kurdische oder ezîdische Geschichten sind bedingt durch politische Einschnitte. Selbst einfach nur in Syrien kurdisch-ezîdîsch zu sein, bedeutete ja keine Staatsbürgerschaft und keine Rechte zu haben. Man wurde als Ausländer*in oder Illegale*r benannt und das ist ja schon eine politische Existenz. Allein, dass Leyla jedes Jahr in eine Diktatur fährt, ist eine Konfrontation mit politischen Dingen.

    Dieses Pendeln zwischen den Welten löst bei Leyla eine gewisse Zerrissenheit aus. Ist das bei dir auch so?
    Dass ich ein kurdisches und ein deutsches Elternteil habe, ist für mich keine Zerrissenheit. Was zerrissen macht, ist eher, als Ezîdin hier zu leben, während Verwandte vor einem Genozid fliehen. Wenn man einer Minderheit angehört und in Sicherheit lebt, bekommt man trotzdem alles mit. Im Kopf ist man jeden Tag in Syrien, im Irak oder in der Türkei.

    Leylas Vater schaut deshalb oft stundenlang syrisches Fern­sehen. Welche Rolle spielen Medien im Roman und im echten Leben?
    Mely Kiyak (Schriftstellerin, Journalistin und Kolumnistin bei der Zeit; Anm. d. Red.) hat bei einer Buchpremiere gesagt, der Vater sei wie ein Nahostkorrespondent ohne Zeitung. Das ist eine gute Beschreibung, die die Realität von Vielen ist. Ich finde es ganz normal, dass Leute aus einer Diaspora wissen wollen, was los ist und Nachrichten konsumieren, die sie hier nicht kriegen. Der Nahe Osten ist von hier aus nur interessant, wenn es brennt, was danach passiert, ist wieder nur im Hintergrund. So versteht man Zusammenhänge oft nicht. Für die deutsche Öffentlichkeit wäre es von Interesse, sie zu verstehen. Die Dinge im Roman kommen nicht von ungefähr.

    Trotzdem schaut Leyla lange Zeit weg und ist generell eher eine passive Figur.
    Das ist ein Unterschied zwischen ihr und mir. Sie mischt sich nicht ein, sie akzeptiert Dinge wie sie sind und passt sich an. Das habe ich so gemacht, um sie in eine Beobachterinnenposition zu stecken, die Dinge nur wahrnimmt und dann durch Ereignisse zum Handeln gezwungen wird. Als Teenager will sie eher Abstand halten, weil sie ein normales Leben will. Dann checkt sie, dass ihre Familie davon betroffen ist und sie nur deshalb nicht, weil sie in Deutschland ist. Sie sieht diese grausamen Bilder und kann irgendwann nicht mehr zuschauen. Das zwingt sie zum Handeln.

    Du meintest, dass es eine Geschichte über ihre hybride Identität ist. Was ist das?
    Sie wird im Buch gefragt, „Bist du Kurdin? Bist du Deutsche?“, und je nachdem wer sie fragt und was die Leute hören wollen, antwortet sie unterschiedlich. Ich finde, schon die Frage ist eigentlich falsch, weil ich persönlich nicht an statische Identitäten glaube. Zum Beispiel sind Ezîd*innen auf die Türkei, Irak, Syrien, Armenien und Georgien aufgeteilt. Da kann man nicht von der ezîdîschen Identität sprechen. An doppelte Identitäten glaube ich auch nicht, was soll das sein? Deshalb sage ich lieber hybrid. Wenn man beispielweise in ein anderes Land flieht, wie der Vater von Leyla, dann ist er ja nicht dieselbe Person, die er war, als er gegangen ist.
    Außerdem gibt es Identität, die von außen festgelegt wird. Zum Beispiel, als das Assad-Regime die Identität von Kurd*innen in Syrien genommen hat. Eine kurdische Identität durfte es nicht geben. Sich trotzdem als Kurd*in zu identifizieren, ist eine politische Identität. Ich würde immer sagen, dass ich ezîdisch und kurdisch bin, weil es für mich eine politische Sache ist. Die persönliche Identität andererseits ist als hybride Identität nichts, was man sucht, sondern sie ist Alltag und Lebensrealität.

    Trifft dein Roman den Zahn der Zeit?
    Als ich vor ein paar Jahren Leuten davon erzählt habe, haben sie gesagt, „das ist ja aktuell“ oder „beeil dich mal, das ist ein guter Zeitpunkt“. Aber da war ich noch nicht fertig. Ich habe das Thema ausgewählt, weil es mich beschäftigt hat. Ich kenne diese Dörfer, meine Familie ist von dort. Aktualität ist eh eine schwierige Frage bei Literatur, der Genozid an Ezîd*innen ist ja nie nicht aktuell. Vor allem wenn es um universale mensch­liche Erlebnisse geht.

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