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  • Eleganz auf dünnen Reifen – eine kleine Kulturgeschichte des Rennrads

    Zwischen Strava-Stolz und Stilritual: Wie das Rennrad zur perfekten Metapher für Suche, Schmerz und Stil in der modernen Welt wurde.

    Es ist ein sonniger Sonntag in Leipzig. Auf der Karl-Heine-Straße klackert es verdächtig. Kein Pferd, kein High Heel – sondern: Klickpedale. Daran festgeschnallt, in aerodynamisch günstiger Haltung, sitzt ein Mensch auf einem Rennrad. Enges Trikot, Waden wie geschälte Baumstämme, Blick entschlossen ins Irgendwo. Und man fragt sich: Wo will der hin? 

    Die Antwort ist einfach: Nirgendwo. 

    Denn das Rennrad, so viel ist klar, ist das wahrscheinlich eleganteste, zweckfreiste Fortbewegungsmittel seit dem Segelboot auf dem Stadtsee. Wer darauf sitzt, hat selten ein Ziel – aber immer ein Anliegen. 

    Das Rad als Statement 

    Ursprünglich war das Rennrad ein Sportgerät. Geboren im späten 19. Jahrhundert, als Männer mit Oberlippenbart und Zeitungshut durch die französische Provinz rasten, um Ruhm, Ehre und Blasen an den Händen zu erlangen. Die ersten Tour-de-France-Fahrer trugen noch Hosenträger, rauchten auf der Etappe und nahmen Cognac statt isotonischer Getränke zu sich. Man könnte sagen: Der Geist war willig, das Equipment ebenfalls betrunken. Mit der Zeit wurde das Rennrad technischer, schneller, leichter. Und irgendwann begann eine neue Bewegung: Menschen, die gar nicht professionell fuhren, fingen an, wie Profis auszusehen. 

    Wer auf einem Rennrad sitzt, hat selten ein Ziel – aber immer ein Anliegen. Foto: privat

    Leiden als Lifestyle 

    Das Faszinierende am Rennrad ist ja, dass es radikal unpraktisch ist. Es hat keinen Gepäckträger, keine Schutzbleche, keine Klingel. Komfort? Fehlanzeige. Der Sattel ist so schmal, dass er eher an eine moralische Prüfung als an ein Sitzmöbel erinnert. Und dennoch – oder genau deshalb – lieben Menschen es. Rennradfahren ist wie Espresso trinken: bitter, schnell, ästhetisch. Man könnte es angenehmer haben. Will man aber nicht. Wer sich freiwillig in Lycra kleidet, will kein Wohlfühlmoment – er will Performance, Kalorienverbrennung, Streckenehre. Vielleicht auch einen Strava-Kommentar von „Hannes 🚴‍♂️🔥“.  Und ja, der Rennradkörper ist ein spezifischer: durchtrainiert, aber nicht eitel. Müde, aber stolz. Soziologisch betrachtet irgendwo zwischen Mönch und Influencer. 

    Geografie der Geschwindigkeitsfantasien 

    In Italien ist das Rennrad ein Kulturgut. Dort fahren 60-Jährige in Trikots, die mehr Sponsorenlogos tragen als Formel-1-Wagen, aber mit der Eleganz von Opernsängern in Bewegung. In Frankreich: Leidenschaft und Stolz, mit kleinen Cafés entlang der Route, in denen man den Espresso im Stehen trinkt und weiterrollt. In Belgien: eine Religion. Man fährt auch bei Nieselregen und Gegenwind, die Kopfsteinpflaster rütteln einem die Weltanschauung aus dem Körper, und trotzdem liebt man es. Und in Deutschland? Da ist das Rennrad so etwas wie der VW Passat unter den Zweirädern: solide, gepflegt, manchmal sehr teuer, aber selten mit Esprit. Hier wird gefahren, was Leistung bringt. Auch wenn niemand weiß, wozu. Übrigens: In den Niederlanden, dem Mutterland des Fahrrads, fährt man erstaunlich wenig Rennrad. Man braucht es schlicht nicht. Dort ist das Rad ein Werkzeug. Hier: ein Versprechen. 

     Zwischen Parkour und Pose 

    In Leipzig sieht man sie überall: Menschen in durchdachter Rennradmontur, die auf dem Weg nach Liebertwolkwitz klingen, als würden sie gleich die Alpen überqueren. Und wer genau hinschaut, merkt: Es geht längst nicht mehr ums Ankommen. Sondern ums Dabeisein. Das Rennrad ist ein Zitat: auf Geschwindigkeit, auf Stil, auf asketischen Genuss. Es ist ein Mittel zur Weltflucht mit 28-Zoll-Reifen. Und es ist, ganz nebenbei, ein hervorragendes Gesprächsthema. Denn wer einmal angefangen hat, über Übersetzungen, Carbonrahmen oder Wattwerte zu sprechen, hört so schnell nicht wieder auf. Rennradfahrer sind die Sommeliers des Straßenbelags. 

     Fazit: Wo wollen wir hin? 

    Das Rennrad hat kein Ziel. Es hat nur Richtung. Man fährt los, um unterwegs zu sein. Um zu schwitzen, zu kämpfen, zu grüßen. Und dann kehrt man zurück, trinkt eine Apfelschorle, lädt die Strecke hoch – und plant die nächste. Ob das sinnvoll ist? Keine Ahnung. Aber sinnvoll war auch noch nie das Kriterium für Leidenschaft. Und so bleibt das Rennrad, was es immer war: ein sportliches Missverständnis mit Stil. 

     

    Titelbild: Pixabay

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