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  • Fahrräder, Fritten und Flachland?

    Unter dem Motto „Alles außer flach“ zeigten die Niederlande/Flandern als Gastland der diesjährigen Buchmesse, dass sie mehr als nur die typischen Klischees zu bieten haben.

    Die Leute werden zum Aufstehen animiert. Eine Person nach der anderen erhebt sich und marschiert auf der Stelle. Die Hüften werden nach rechts und links gedrückt. Dann sollen die Arme gehoben werden. Mit den Händen formt man einen Kreis, so, als würde man ein Apfelsine umfassen. Ja, die Apfelsine muss „gefühlt“ werden. Mit der Kraft der Imagination reißt man die Frucht auseinander und verteilt den „Saft“. Für diejenigen, die unbehelligt an dieser Szenerie ankommen, liegt der Gedanke nahe, dass hier eine neue Form esoterischer Praxis praktiziert wird. Doch wir befinden uns auf der Leipziger Buchmesse, genauer gesagt am Stand des Gastlands Niederlande/Flandern. Die niederländisch-ukrainische Autorin Lisa Weeda erzählt gerade im Gesprächsformat „Kopje Koffie“ über ihren neuen Roman „Tanz, tanz, Revolution“, in dem man mit dem traditionellen osteuropäischen Tanz „Svaboda Samoverzjenja“ Menschen zum Leben erwecken kann. Wo sie an den Punkt kommt, den Tanz zu beschreiben, fragt die Moderatorin, ob man diesen nicht gemeinsam nachtanzen wolle. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten, und Weeda dirigiert die rund 30 anwesenden Personen.

    Lisa Weeda mit der Übersetzerin Birgit Erdmann. Weeda steht, Erdmann schaut sie an. Vor ihnen ist Weedas neuer Roman aufgestellt.

    Lisa Weeda stellt ihren neuen Roman vor.

    Wie schon die Frankfurter Buchmesse im Jahr 2016 hatte nun das Leipziger Pendant den niederländischen Sprachraum als Gastland geladen. Unter dem Motto „Alles außer flach“ wurde ein besonderer Fokus auf die Literatur und Sprache unseres westlichen Nachbarn gelegt. Mehr als 40 niederländische oder flämische Autor*innen waren in der Messestadt zu Gast und stellten ihre Neuerscheinungen vor. Außerdem konnten sich die Messebesucher*innen neben den zahlreichen Lesungen in Sprachworkshops mit der niederländischen Sprache vertraut machen oder von Judith Vanistendael in die Kunst der Graphic Novels eingeführt werden. Die Hauptattraktion blieben jedoch die Schriftsteller*innen mit ihren Werken. So unter anderem die bereits genannte Lisa Weeda, die in ihrem Roman die Kriegsmüdigkeit vieler Menschen thematisiert und zum Nachdenken darüber anregen möchte, was den Wert einer widerständigen Gemeinschaft ausmacht. „Wir haben eine abstrakte Vorstellungen über die Zustände in einem Kriegsland“, sagt sie im „Kopje Koffie“. Genau solche Zustände versuche sie emotional zugänglich zu machen.

    Gaea Schoeters mit Übersetzerin Lisa Mensing. Schoeters lies aus ihrem neuen Roman.

    Gaea Schoeters liest aus “Trophäe”.

    Auch Gaea Schoeters war in der Messestadt zu Gast. Ihr neuer Roman „Trophäe“ handelt von Hunter White, einem Finanzmanager und Hobby-Großwildjäger, welcher sich zum Ziel gesetzt hat, ein Nashorn zu erlegen. Doch Wilderer kommen ihn zuvor und töten das Tier, weshalb sich sein Jagdziel nun auf das wohl gefährlichste Raubtier der Welt verlagert: den Menschen. „Ich möchte lieber nicht, dass jemand meinen Google-Suchverlauf der letzten zwei Jahre anschaut“, gesteht die Autorin, als sie auf der Buchmesse beschreibt, wie sie für ihren Roman über die verschiedensten Waffen und Jagdtechniken recherchieren musste. „Als ich das Buch beendet hatte, war ich eigentlich froh, Hunter White los zu sein“, sagt Schoeters.

    Beide Autorinnen vermitteln eine Idee davon, wie die niederländischsprachige Literaturszene tickt. Die Literatur, mit der sich das Gastland der Leipziger Buchmesse vorstellt, erzählt von unseren Umgang mit Kriegen, von Kolonialismus oder Geschlechtsidentitäten und wird verschieden verpackt: als essayistische Abhandlung, als fiktionaler Roman oder in lyrischer Form. Um dem deutschen Publikum eine möglichst große Palette dieser Literatur vorzustellen, wurde im Rahmen der Buchmesse ein neuer Essayband vorgestellt, welcher im Sinne des Gastlandauftritts benannt wurde: „Alles außer flach“. In diesem stellen Niederlandist*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aktuelle deutsche Übersetzungen vor. Dabei gehe es nicht ums Theoretisieren der Werke, sagt die Mitherausgeberin Johanna Bundschuh-van Duikeren bei der Vorstellung des Buches. Die meisten Essays sind als eine Art Leseempfehlung zu verstehen, die uns in die niederländischsprachige Literatur entführen möchten. So erklärt Hans Beelen, dass Raoul de Jongs „Jaguarmann“ keine Anklage, sondern ein Geschenk sei und Jan Knost beschreibt, warum für ihn Louis Ferrons „Der Schädelboher von Fichtenwald, oder: Die Metamorphosen eines Buckligen“ eine verstörende und zugleich faszinierende Lektüre war.

    Wer die Niederlande/Flandern bisher nur klischeehaft mit Windmühlen, Fahrrädern, keinen Bergen, kulinarischen Klassikern wie Fritten, Waffeln und Käse oder – aus aktuellem Anlass – Cannabis verbunden hat, wird von der Buchmesse eines Besseren belehrt. Denn allein die kleine literarische Reise, in die uns das diesjährige Gastland entführt hat, überrascht mit einigen Geheimtipps abseits des deutschen Buchmarkts. Anders ausgedrückt: Die Literatur von unserem Nachbarn ist alles – außer flach.

     

    Fotos: Eric Binnebößel

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