„Mein Geld ist nicht weg, das hat nur jemand anderes“
Auch Glücksspiel kann süchtig machen – und selten wird darüber gesprochen. "In jedem Bezirk bräuchte es eine Selbsthilfegruppe für Spieler", schätzt ein Betroffener die Situation in Leipzig ein.
In Deutschland haben 1,3 Millionen Menschen die Diagnose Glücksspielsucht. Rolf L., der anonym bleiben möchte, ist einer von ihnen. Im Interview mit luhze-Redakteurin Emma Eckhoff spricht der 46-Jährige über seine Erfahrungen mit Automaten- und Casinoglücksspiel, warum Glücksspiel politisch ist und wie die Stadt Leipzig Betroffenen von Spielsucht besser helfen könnte.
luhze: Sie sind in Behandlung aufgrund von Spielsucht. Welche Stereotype über Spielsüchtige treffen nicht zu?
Rolf L.: Wir sind auf jeden Fall keine dummen Menschen. Die meisten haben studiert oder sehr gute Ausbildungen absolviert, arbeiten in sehr renommierten Stellen. Man sagt oft „Spieler? Dann hör auf zu spielen“ und hält die Menschen dann für dumm, was sie aber nicht sind. Und Spieler sind von Natur aus sehr empathische Menschen – was aber das Spielen teils unterdrückt.
Wann und in welchem Kontext haben Sie dich das erste Mal am Glücksspiel versucht?
Mit 16 Jahren. Es waren halt die Neunziger, ein anderes Zeitalter. Wir waren damals viel in Pubs unterwegs und da war eben ein Spielautomat, da habe ich dran gespielt. Hat Spaß gemacht. Ich habe damals aus Jux und Tollerei gespielt, nicht um irgendwas zu kompensieren, wie später dann. Geld hatte ich von zuhause aus genug. Ich war damals ein „Gute-Laune-Spieler“.
Was meinen Sie damit?
Die meisten Spieler fangen an, mit Spaß an die Sache heranzugehen. Manche bleiben hängen, weil sie etwas gewinnen, andere bleiben dran, weil es einfach Spaß macht, wie Billard oder Dart spielen. Da ist kein Gedanke weiter dahinter, dass das irgendwie schlecht ist.
Wie würden Sie den Reiz am Glücksspiel erklären?
Es setzt ja Glückshormone frei. Am Anfang gehst du hin und hast deinen Spaß. Und die meisten, die dann wirklich in die Abhängigkeit rutschen – ungefähr ein Drittel mittlerweile – nimmt das dann als Ausgleich zu negativen Gefühlen. Manche gehen spielen, weil sie zu wenig Geld haben und erhoffen sich damit ihre Rechnungen zu bezahlen. Ich war ein Spieler, der dahingegangen ist und seine Ruhe haben wollte. Ich hatte meine Automaten, hatte meinen Kaffee und hatte meine Ruhe vom Alltag. Es gibt viele Gründe, warum der Spieler spielen geht, nachdem der Spaß kein Spaß mehr ist, sondern völliger Ernst wird.
Als Glücksspieler willst du deinen Erfolg sofort haben. Warum du diesen Erfolg brauchst, ist immer verschieden. Ich wollte einfach gegen den Automaten gewinnen. Das Geld, was da rauskam, hat mich nicht interessiert.
Sie sagen, dass Sie es vor allem als Ausgleich zu negativen Gefühlen gemacht haben. Was meinen Sie damit konkret?
Stress. Konflikte zuhause, Konflikte mit Partnerschaften, Konflikte mit dem Gesetz, Konflikte mit der Arbeit. Einfach dieser Ruhepol. Damals war es so, dass die Empfangsbereitschaft von Handys in Spielhallen noch nicht so gut war. Mittlerweile bieten sie ja WLAN an, aber die meisten Glücksspieler, die ich kenne, machen ihre Handys aus. Weil sie wirklich ihre Ruhe haben wollen.
Wie häufig haben Sie tatsächlich etwas gewonnen?
Höhere Gewinne gab es schon öfters. Aber die sind halt immer wieder reingeflossen. Ich habe nur ein einziges Mal meinen Gewinn mitgenommen. Das war aber noch in meiner jüngeren Zeit, weil ich einen Flug erwischen musste, sonst hätte ich das Geld wahrscheinlich verzockt.
Wie hat sich die Spielsucht auf Ihren Alltag ausgewirkt?
Am Anfang war es irrelevant. Es hat zu meiner Freizeitgestaltung dazugehört. Später hat es einen größeren Teil des Alltags eingenommen. Da lief in meinem Kopf nur noch ab: Wann kann ich spielen gehen? Ich habe mich auf der Arbeit oft krankgemeldet, habe zuhause alles stehen und liegen gelassen, Familie vernachlässigt und bin spielen gegangen.
Du vereinsamst sozial als Spieler, weil du dich am Ende nur noch aufs Spielen konzentrierst. Deine Probleme verschwinden ja nicht, wenn du aus der Spielhalle rausgehst. Und dann planst du schon wieder, wann du das nächste Mal spielen gehst. Das ist ein Kreislauf und der ist irgendwann schwer zu durchbrechen.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Hilfe brauchen?
Die Frage war nicht, ob ich Hilfe brauchte, sondern: Konnte man Hilfe bekommen? Die Anerkennung von Spielsucht ist das Problem gewesen. Ich war das erste Mal 2018 in Therapie und in der Zeit kurz davor ist mir schon wirklich bewusst geworden, dass ich mein Leben völlig gegen den Baum gefahren habe.
Da habe ich irgendwann diesen Punkt erreicht: Ich habe die Schnauze voll von allem. Ich möchte mein Leben jetzt mal genießen. Ich habe natürlich noch einen Riesen-Rucksack hinten drauf: Ich bin in der Privatinsolvenz mit über 330.000 Euro Schulden.
Dann haben Sie also eine sehr lange Zeit gespielt, ohne es als Problem wahrzunehmen?
Ja. Ich habe eine gute Million Euro verzockt, sagen wir´s mal so.
Wie läuft Ihre Behandlung ab?
Für Spieler gilt aus meiner Sicht eigentlich nur tiefenpsychologische Behandlung. Das heißt, man sucht die Ursache in der Kindheit oder Jugend. Das steckt am Ende bei jedem Spieler drin. Spieler haben nicht den Kontrollverlust der Alkoholiker. Spieler wissen immer, was sie tun und vergessen auch nicht, was sie getan haben. Du bleibst immer abhängig, weil dein Gehirn die Gefühle, die dir diese Ruhe bringen, nicht vergisst. Du musst nur lernen, damit umzugehen. Das heißt, deine Alltagskonflikte besser zu handhaben.
Das Spielen macht dich zum Narzissten. Weil du nur an dich selbst denkst, dir ist alles egal. Du belügst, betrügst, manipulierst. Nur um eins zu bekommen: Geld. Diesen Kreislauf zu durchbrechen, schafft kein Spieler allein, das kann mir keiner erzählen.
Woran sterben die meisten Spieler, wenn sie nicht trockenwerden? Suizid. Weil der Spieler zu edel und abgeklärt ist. Du wirst einen Spieler nicht auf der Straße erleben. Bevor er alles verliert, bringt er sich um.
Wie konnte Ihnen die Behandlung bis jetzt helfen?
Gut! Ich habe zurzeit keinen Suchtdruck. Ich bin völlig weg, mir geht es richtig gut. Ich habe in meinen Therapien viel mitgenommen. Zum Beispiel habe ich ein Blatt Papier an meinem Kühlschrank hängen, für Extremfälle: Was ich tue, wenn es mir schlecht geht und es mir gerade nicht mehr einfällt. Aber, die Therapie schlägt gut an. Sucht ist ja eine chronische Krankheit, das darf man nicht vergessen.
Acht Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben eine sogenannte „Glücksspiel-Störung“ entwickelt oder verzeichnen einen riskanten Umgang mit Glücksspiel. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch höher. Aber Spielsucht ist im Vergleich zu anderen Suchterkrankungen nicht so bekannt und wird in der Öffentlichkeit und Politik nicht so ernst genommen. Woran, denken Sie, liegt das?
Nehmen wir mal den Maßregelparagraph (Paragraph 64 Strafgesetzbuch, Anm. d. Red), der die Unterbringung von Straftätern in einer psychiatrischen Klinik regelt. Darin geht es um den Unterschied zwischen Sucht und Kriminalität. Aber die Spielsucht als Suchtform ist nicht mit inbegriffen.
Es gab vor ein paar Jahren diesen neuen Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern für die Regelung von Online-Glücksspiel in Deutschland. Danach soll das Einzahlungslimit für Online-Glücksspiel bei 1.000 Euro sein. Aber die Länder haben eine Abmachung mit den Spielfirmen getroffen, sodass du das Limit durch eine Schufa-G-Abfrage umgehen kannst. Wenn du keine Schulden hast, kannst du also auch mehr als 1.000 Euro einzahlen. Diese Lobbyistenmacht der Online-Spielfirmen ist der Wahnsinn.
Allein durchs Online-Glücksspiel hat der Staat in 2023 rund 2,5 Milliarden eingenommen. Sie können von mir aus machen, was sie wollen. Soll jeder sein Geld verdienen. Du bist auch irgendwo selbst schuld, wenn du spielen gehst, das ist keine Entschuldigung. Aber die Hilfsangebote sind dafür, dass es diese Sucht schon so lange gibt, zu gering. Es gibt einfach zu wenig Aufmerksamkeit dafür.
Meinen Sie mediale Aufmerksamkeit oder die der Öffentlichkeit?
Es geht um die Frage: Will man das hören? Schauen wir uns das Rauchen an: Die Anti-Raucher-Kampagne hat gewirkt. Und das war ein riesiger Einkommensverlust für den Staat. Warum kann man diese Kampagne nicht für alles, was öffentlich zugänglich und legal ist – wie Spielen und Alkohol – genauso machen? Es geht prinzipiell nur ums Geld. Eine Therapeutin hat mir mal gesagt: Dein Geld ist nicht weg, das hat nur jemand anders.
Aber auch die Gesellschaft allgemein sollte mehr Verständnis haben. Das Problem bei der Spielsucht ist, dass man sie nicht übers Blut messen kann. Man kann sie nur am Schuldenstand messen. An Geld, was man nicht mehr hat. Und an Menschen, die man aus seinem Leben verstoßen hat.
Wie schätzen Sie das Hilfsangebot in Leipzig für Menschen, die von Glücksspielsucht betroffen sind, ein?
Sparsam. Spieler sind wirklich eine Nische: Sie trauen sich nicht raus und haben nicht das Angebot dafür. Ich war in einer Klinik für Alkoholiker und Spieler und da waren viel mehr Alkoholiker als Spieler. Wobei ich davon ausgehe, dass sich, wenn man von der Dunkelziffer ausgeht, die Waage hält.
Was bräuchte es Ihrer Meinung nach in Leipzig für Maßnahmen gegen Spielsucht?
In jedem Bezirk bräuchte es eigentlich eine Selbsthilfegruppe für Spieler. Und ich garantiere, wenn alle Spieler ehrlich zu sich wären, würde jede Gruppe voll sein. Also, du könntest bestimmt jede Woche in jedem Stadtteil in Leipzig zehn Leute finden, die zu einer Selbsthilfegrupp auch hingehen würden, wenn sie sich trauen würden.
Was würden Sie von einem generellen Verbot von Glücksspiel halten?
Ich halte nichts von Verboten. Verbote bringen immer das Gegenteil. Die Leute würden auf das Internet ausweichen und andere Seiten besuchen, die nicht in Europa anhängig sind. Lieber genug Therapiemöglichkeiten für Spieler, damit wäre schon am meisten geholfen.
Was ich gut fände, wäre: Keine Spielautomaten mehr in Dönerläden oder Kneipen. Sondern nur noch in Spielhallen und Casinos mit Lizenz. Nur da kann man die OASIS-Sperre durchsetzen.
Was würden Sie anderen Menschen raten, die Schwierigkeiten im Umgang mit Glücksspiel haben?
Sucht euch Therapie. Seid ehrlich zu euch selbst, das ist das Wichtigste überhaupt. Das würde ich jedem Spieler raten, das ist der erste Schritt. Und wenn du ehrlich zu dir selbst bist, machst du eine Therapie.
Geht offen mit eurem Problem um und denkt daran: Es ist eine Krankheit. Es ist nichts Schlimmes. Es ist auch nichts Verwerfliches, nur weil uns die Gesellschaft das so erzählen mag.
Titelbild: Pixabay


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