200 Jahre tastbares Lesen
Auch in Leipzig wird das Jubiläum der Brailleschrift gefeiert – in Sachen Barrierefreiheit sieht Thomas Kahlisch, Direktor des Deutschen Zentrums für barrierefreies Lesen dennoch Verbesserungsbedarfe.
Jeden Tag lesen wir Texte auf Straßenschildern, Anzeigetafeln oder den Bildschirmen unserer Smartphones und haben damit leichten Zugang zu einer Unmenge an Informationen. Doch was für die meisten von uns selbstverständlich erscheint, ist für blinde und sehbehinderte Menschen ein hart erkämpftes Stück Selbstbestimmung. Seit 200 Jahren hilft ihnen dabei eine bemerkenswerte Erfindung: die Brailleschrift.
1825 entwickelte der blinde Franzose Louis Braille das nach ihm benannte Punktschriftsystem, welches bis heute weltweit Menschen mit Sehbehinderung das Lesen sowie Schreiben ermöglicht. „Alles ist ganz logisch aufgebaut“, sagt Thomas Kahlisch, Direktor des Deutschen Zentrums für barrierefreies Lesen (dzb lesen) in Leipzig. Die Grundform der Schrift besteht wie die Sechs eines Würfels aus zwei senkrecht nebeneinander angeordneten Reihen mit je drei Tastpunkten.
Jede Punktekombination steht nun für einen konkreten Buchstaben, für Zahlen oder auch Sonderzeichen. So markiert etwa der obere linke Punkt den Buchstaben „a“, während „b“ durch den oberen und mittleren Punkt auf der linken Seite dargestellt wird. Während das System an sich leicht zu verstehen ist, liegt die eigentliche Herausforderung im Ertasten der Punkte. Gerade älteren Menschen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt im Leben erblinden, kann die Entwicklung dieses Fingerspitzengefühls oft schwerfallen. Doch Thomas Kahlisch macht Mut: „Es ist wie immer im Leben, Übung macht den Meister.
Brailleschrift geht auch digital
Digitale Medien haben den Zugang zu Informationen revolutioniert – auch für blinde Menschen. Vorausgesetzt, Webseiten sowie Programme und Inhalte sind barrierefrei gestaltet, steht ihnen heute eine enorme Informationsvielfalt offen. Möglich machen das technische Hilfsmittel wie Screen Reader, Sprachausgaben und sogenannte Braillezeilen. Letztere wandeln digitale Texte in tastbare Punktzeichen um und ermöglichen so das tastbare Lesen.
Das dzb lesen hat es sich bereits vor etwa 130 Jahren zur Aufgabe gemacht, den gleichberechtigten Zugang zu Literatur und Information zu fördern. In diesem Sinne unterstützt das Zentrum beispielsweise Verlage bei der Produktion barrierefreier Bücher, organisiert Leseveranstaltungen oder sendet Lesekisten an blinde und sehbehinderte Schüler*innen.
Mit der steigenden Nachfrage nach digitalen Medien wächst auch das Angebot des dzb lesen. Besonders gefragt sind barrierefreie E-Books, die entweder auf der Braillezeile ertastet oder per Sprachausgabe vorgelesen werden können. Zur Feier des 200-jährigen Jubiläums der Brailleschrift hat das Leipziger Zentrum nun sein Angebot erweitert: Seit April 2025 können Nutzer*innen Braille-Titel direkt aus dem Internet auf ihre mobilen Endgeräte laden.
Barrierefreies Lesen in Leipzig
Doch wie steht es um die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum Leipzigs? „Barrierefrei gestaltete Fahrstühle sind oft mit Braille beschriftet, auch manche Treppenaufgänge oder Orientierungspläne“, berichtet Kahlisch. Besonders hebt er außerdem das Engagement der Leipziger Museen und Theater hervor, wie beispielsweise das Bach-Museum, das zusätzliche Angebote für sehbehinderte Besucher*innen zur Verfügung stellt.
Dennoch sieht Kahlisch klaren Verbesserungsbedarf: Er erklärt, dass die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Raumes mehr umfasst als Braillebeschriftung. Viel zu wenige Menschen wüssten überhaupt, welchen Zweck die Leitlinien auf Gehwegen oder an Haltestellen erfüllen. Es fehle an Aufklärung, durchdachten Konzepten – und vor allem an der Beteiligung Betroffener. Hierzu nennt er ein Beispiel: „Es gab mal den Plan, die Straßennamen auf den Schildern mit Braille zu beschriften – wenig sinnvoll. Kein blinder Mensch sucht mit seinem Stock das Straßenschild, um sich dann die Finger an diesem zu verschmutzen“. Sein Appell: Barrierefreiheit muss mit den Betroffenen gedacht werden, nicht über ihre Köpfe hinweg.
Gesellschaftliche Muster
Was sich in Leipzig zeigt, spiegelt ein gesamtgesellschaftliches Muster wider: Zwar wächst die Zahl barrierefreier Angebote für blinde und sehbehinderte Menschen, doch häufig mangelt es an einem grundlegenden Verständnis dafür, was Barrierefreiheit tatsächlich bedeutet. Thomas Kahlisch bezeichnet diese als zentrales Qualitätsmerkmal unserer Zeit, das keineswegs als Luxus angesehen werden sollte. Besonders im Gesundheitssektor sieht er dringenden politischen Handlungsbedarf: Hier drohen neue digitalisierte Prozesse Barrieren aufzubauen, statt diese zu beseitigen. Um dies zu vermeiden, müsse Barrierefreiheit von Anfang an konsequent mitgedacht und umgesetzt werden.
Titelbild: Pexels


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