Zuhause auf Zeit
Liebe in all ihren Facetten ist das, worum es schlussendlich geht. Eine Kolumne über Freundschaft, Enge in der Brust und die Grausamkeiten des Lebens. Vor allem aber eins: eine Liebeserklärung.
Die Zwanziger sind ein seltsamer Lebensabschnitt. Gefüllt von so vielen ersten und letzten Malen, denen man sich oft kaum bewusst ist. So viele Begegnungen, herbeigesehnte und unerwartete Umbrüche, Abschiede, Tränen, Vorfreuden. So viel fühlen. So viele neue Lieben. So viele neue Orte. Ein neuer Ort für mich ist Lyon. Die Stadt, die sich irgendwie anfühlt wie ein neues Leben.
Es ist das Ende meines Auslandsstudiums hier. Eine Woche noch, dann geht es zurück. Ich sitze im Bus neben meiner Freundin Eve. Wir sind auf dem Weg von Turin nach Lyon. Fahren zurück von einem Besuch bei unseren italienischen Freunden, die ihr Erasmus einen Monat vor uns beendet haben. Zusammen haben wir eine Woche zwischen Focaccia, Pasta, Cappuccino und Aperol in der Sonne verbracht. Der Abschied von den Turinern fühlt sich surreal an. Ich habe Tränen in den Augen, während ich mit Eve durch das Fensterglas auf die französischen Alpen blicke. Gemeinsam hören wir die geteilte Playlist unserer Freundesgruppe. Es geht nun zurück in die Stadt, die für mich neben Berlin und Leipzig ein neues Zuhause ist. Um mich herum sitzen die Menschen, die dieses Zuhause-Gefühl möglich gemacht haben. Ein Zuhause auf Zeit. Eines, in das ich so nicht zurückkehren kann. Ein Zuhause, das am 30. Mai sein Ende finden wird.
Absurditäten
Eve und ich sprechen über die Magie unserer Freundesgruppe. Über all die Liebe, Wertschätzung und Inspiration, über die Angst, einander zu verlieren, wenn wir zurück in den Alltag von Studium und alten Strukturen kehren. Zurück in einen Alltag ohne Fromageries, Friperies und Boulangeries, ohne bonsoir und du coup. Trennungen, die vom Außen, von den Umständen vorgegeben werden, fühlen sich unwirklich und unfair an. All das Wohlfühlen, die Liebe und der intuitive Zugang zueinander sind noch da. Doch Landesgrenzen, Ozeane trennen uns. Abschiede sind schrecklich. Es ist eine der größten Grausamkeiten des Lebens, getrennt von den Menschen zu sein, die man liebt.
Aus psychologischer Perspektive kann eine derartige Verlusterfahrung eine Erschütterung des Selbst bedeuten. Enge Bindungen formen nicht nur unser soziales Umfeld und beeinflussen unsere Zeitgestaltung. Menschen, die wir lieben, mit denen wir Erinnerungen teilen, werden Teil unseres Selbstkonzepts. Unser Gehirn reagiert auf Trennungen mit messbaren Veränderungen – etwa mit erhöhter Cortisolausschüttung (Stress), reduziertem Oxytocinspiegel (Bindungshormon) und einer Aktivierung der Hirnregionen, die auch bei körperlichem Schmerz beteiligt sind.
Wir erleben Abschied wie Schmerz. Und ja, er ist physisch spürbar. Enge in der Brust. Das Herz ist mir schwer. So stark habe ich diese Redewendung noch nie gefühlt. Es ist so schwer, weil es bis zum Rand gefüllt ist. Gefüllt mit Sonne und Café au lait an der Rhône, mit Pinguin-Umarmungen, mit Lachen über den urkomischen Humor von Allegra, dem Duft von Andreas und Alessandros Risotto und Annabels Keksen zum Nachtisch, dem Strahlen von Mila, dem Parfum und Grinsen von Anouk, dem immer offenen Ohr von Emma und den Geschichtsstunden von Mario, dem Gefühl, mit Eve alles auszutanzen. Carla, Marta, Michi, Brian, René, Marten, Eugenio, Gabriele, Francesca, Loïs, Clément, Ysalis – mein Herz ist voll mit euch allen.
Zusammen aufgewachsen
Zeitsprung zum nächsten Tag. Zurück in Lyon, sitze ich wieder bei Sonne und Kaffee am Fluss, spreche ich mit Mila und Annabel über die vergangenen neun Monate. Eine absurd kurze Zeit. Es fühlt sich an, als sei ich hier groß geworden. Wir sind uns einig – wir alle sind hier gemeinsam groß geworden. Begegneten uns als unbeschriebene Blätter, ohne Zuschreibungen, steckten nicht in alten Rollen oder Strukturen fest. Niemand von uns wollte sich neu erfinden. Wir wollten und mussten niemand anders sein.
Doch vielleicht sind wir mittlerweile alle ein bisschen jemand anders geworden. In jedem Fall haben wir erlebt, wie es ist, ganz ohne es erzwingen zu müssen, im Jetzt, und vollständig bei uns selbst zu sein. Wie floskelhaft das klingt. Ich bin beim Schreiben dieses Textes selbst überrascht davon, wie viel Wahrheit wohl doch in Kalendersprüchen stecken kann. Doch es stimmt: Les gars, ich war mit euch ganz bei mir. Ich danke euch so sehr dafür.
Liebe und Geld
Ich kann mich nicht verabschieden. Es fühlt sich so ungerecht an, das zu müssen. Freundschaft und Liebe auf Distanz sind immer auch eine Frage des Geldes, denn Mobilität muss man sich leisten können. Zeit, sich gegenseitig zu besuchen, muss man sich leisten können. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der Distanzen so leicht zu überwinden scheinen. Und es oft doch nicht sind. Das mag drastisch klingen. Aber sehe ich es richtig, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft sogar die Zugänge zu Liebe ungleich verteilt sind? Fies.
Eine nächste Grausamkeit
Mit dem Ende der Zeit in Frankreich geht nicht nur ein Kapitel zu Ende – es ist ein ganzes Buch. Ein Buch so vieler Erinnerungen. Ich wünschte, es wäre möglich, jede einzelne Sekunde einzufrieren. Ich habe es versucht. Mir bleiben Fotos, Tagebucheinträge und die Musik, die für immer der Rhythmus dieses Lebensabschnitts sein wird. Und dann all die Namen der Orte, an denen wir diesen Film gemeinsam gelebt haben: unsere liebsten Jazz-Clubs, die rote Brücke am Fluss, die Gänse im Park des goldenen Tors, Rotwein und Nachtstadtlichter im Stadtviertel Croix-Rousse.
Es fühlt sich aber an, als könnte auch das nicht reichen. Ich weiß, dass ich noch so fieberhaft versuchen kann, jeden Moment festzuhalten. Ich werde vergessen. Das Vergessen schöner Momente – die zweite große Grausamkeit des Lebens. Es ist ein beklemmender Gedanke, dass wir nicht einmal selbst dazu in der Lage sind, unsere eigene Geschichte in Gänze zu erzählen.
Alles in Fragmenten
Da sind so viele Geschichten, von denen wir nur einen kleinen Ausschnitt mitbekommen. So viele offene Enden. Ich werde vermutlich niemals wissen, wie es weiterging mit der Karriere meiner Zugbekanntschaft, mit der ich Antworten auf die großen Fragen des Lebens gesucht und voller Naivität gefunden habe. Nie erfahren, welche großen und kleinen Entscheidungen die Person, die ich einst liebte, in ihrer Zukunft treffen wird. Und ob sich Blicke einer Freundschaft, die sich aus den Augen verloren hat, wieder treffen werden?
Dass auch schöne Zeit begrenzt ist, macht sie wertvoll – das weiß ich. Dass das Vergessen okay und vor allem wichtig ist – das weiß ich auch. Und dass mein Herz nicht leer sein wird, wenn ich zurückkehre – ja, das weiß ich schon auch. Aber ich kann dieses Buch nicht noch einmal schreiben. Nur Ausschnitte davon kann ich es noch einmal lesen. Das Buch Lyon wird nie mehr sein, was es gerade ist. Die Protagonisten fehlen. Ich mag das nicht wahrhaben. Doch kann es nicht ändern. Da ist kein Zurück-in-der-Zeit. Das Einzige, das ich tun kann, ist es, das warme Gefühl im Bauch zu behalten, es aufzuschreiben, diesen Text zu schreiben. Diesen Abschiedsbrief. Liebesbrief. Les gars, merci d’être vous.


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