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  • Der Augenblick, wenn sich der Kreis schließt

    Inmitten der Highlands, erfährt Kolumnistin Julie, wie ein Traum Wirklichkeit wird. Zurückschauend, hat jede Entscheidung sie an diesen Ort geführt, selbst wenn er einmal ungreifbar erschien.

    Drei Jahre ist es her, dass ich mit meiner Familie einen Sommerurlaub in Schottland verbracht habe. Ich war 16 und hatte gerade die zehnte Klasse beendet. Wir nahmen die Fähre nach Newcastle und fuhren dann stundenlang in unserem vollgepackten Auto die Küste entlang. Als es sich schon beinahe normal anfühlte, auf der linken Straßenseite zu fahren, sah ich schließlich zum ersten Mal die marsähnliche Landschaft der Highlands. Die kargen, aber in allen Grüntönen schimmernden Berge erstreckten sich zu beiden Seiten der einspurigen Straße, in die wir ein letztes Mal vor unserem Ziel abbogen.

    Verlangsamt durch vereinzelt entgegenkommende Autos, Schlaglöcher und den Blick auf das Panorama um uns herum, fanden wir in der Abenddämmerung zu unserem Ferienhaus. Verwunschen lag es am Ende der Zivilisation und am Anfang eines Fjordes. Es war ein Ort, von dem ich bisher nur geträumt hatte. Er wirkte beruhigend im Morgenrot, wenn Rehe in der Nähe grasten, magisch bei plötzlich einsetzenden Regenschauern und unbegreifbar in seinem uralten Vulkangestein, das alles und nichts erlebt haben musste. Es war ein Ort, in den ich mich mit jedem Foto, das ich machte, ein bisschen mehr verliebte.

    Die Autorin Julie-Madeline Simon steht in einer gelben Wanderjacke vor einem Berg. Hinter ihr sind weitere Wandernde zu sehen.

    Regenschauer in Schottland versprechen meistens auch einen Regenbogen.

    Dieses Gebirge schien voller Geheimnisse zu stecken und so fiel mir besonders ein bestimmtes Haus auf, jedes Mal wenn wir uns wieder auf der Hauptstraße befanden. Seine weißgestrichene Fassade schien ergeben vor dem Berggipfel zu verschwinden, der sich hinter ihr auftat. Und doch stach das Haus heraus, da es eines der einzigen in dieser Gegend war. Dieser Kontrast machte es zum perfekten Fotomotiv und so war es nicht überraschend, dass ich die Hütte schon unzählige Male auf Instagram gesehen hatte. Doch als ich selbst mit meiner Kamera ein paar hundert Meter vor dem Haus stand, berührte dieser Ort etwas ganz Tiefes in mir und so fing ich den Moment schnell als nächste Erinnerung ein.

    Es beschäftigte mich, wer wohl an so einem verlassenen Ort wohnen würde. So sah ich in meiner Vorstellung ein älteres Paar vor einem Kamin sitzen, genervt von den Tourist*innen, die ihr Grundstück belagerten. Vielleicht war das Haus aber auch ganz verlassen und würde in den kommenden Jahren sein strahlendes Weiß an ein ausgeblichenes Grau verlieren. Ich konnte nur Geschichten darüber erfinden, denn wissen konnte ich es nicht. Dieses Backsteinhaus ließ sich jedenfalls nicht, im Gegensatz zu unserem Haus, auf einer Internetseite zum Mieten finden.

    Diese zwei Wochen hinterließen Spuren und ich konnte den Traum nicht unterdrücken, mich selbst einmal in Schottland leben zu sehen. Wie genau das passieren sollte, wusste ich nicht. Und ob mein Englisch dafür jemals gut genug sein würde, da war ich mir auch nicht sicher. So galten meine Sorgen erstmal meinem Abitur und danach dem Start des Studiums. Überhaupt wusste ich noch gar nicht, was ich studieren wollte.

    Mit den Erinnerungen an diesen Sommer im Kopf, blicke ich nun aus dem Fenster. Die Aussicht ist wolkenverhangen und die umliegenden Berge sind trotz der kalten Jahreszeit rötlich eingefärbt. Hundert Meter entfernt sehe ich jemanden ein Foto von dem Haus schießen, in dessen Inneren ich mit einer heißen Tasse Tee auf der Fensterbank sitze. Unsere Küche ist gemütlich eingerichtet mit einem großen Tisch, um den die anderen Studenten*innen sitzen, mit denen ich hierhergekommen bin, um am Wochenende ein paar der Berge zu erklimmen. Die Hütte kann nur von bestimmten Wandervereinen gemietet werden, wie ich herausgefunden habe, nachdem ich dem „Lairig Club“ der Universität  Aberdeen beigetreten war.

    So sitze ich also in eben diesem kleinen weißen Haus, das mir vor Jahren so unwirklich und geheimnisvoll erschien – und versuche für ein paar Augenblicke an die Zukunft zu denken. Dabei wird mir bewusst, dass ich mir nur ein verschwommenes Bild von ihr machen kann. Zwar weiß ich, was ich noch lernen und erreichen will, aber eine Ahnung, wie ich das alles machen soll, habe ich nicht. Dagegen wirkt die Vergangenheit auf einmal wie eine klargezogene Linie, die nur wenig anders hätte verlaufen können. Denn nachdem ich mein Abitur bestanden habe, hat dann auch alles mit meinem Studiengang geklappt, der mir dann wiederum die Möglichkeit gab, für ein Jahr mithilfe des Erasmus-Programms in Schottland zu studieren. Mit jedem kleinen Schritt dazwischen wurde das Unmögliche also immer möglicher und ein stillgehegter Traum letztendlich zur Wirklichkeit.

    Irgendwie habe ich wohl doch alle richtigen Entscheidungen getroffen, um in diesem Moment anzukommen. Ein Moment, in dem sich mit Leichtigkeit Unsicherheit und Panik in den vielen Minuten zwischen den Jahren vergessen lässt. Alles für die Erfüllung eines Traumes und den Augenblick, in dem sich ein Kreis schließt, ohne Zweifel über Umwege oder das Jetzt.

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