Schulsport im Zwiespalt
Ist der Sportunterricht ein pädagogischer Joker oder eine lebenslange Belastung? Diese Frage stellen wir in der aktuellen Printausgabe.
Man hört von elitären Mannschaftswahlen, schadenfrohen Lehrkräften und Mobbing beim Völkerball – und auch aus Umfragen von Zeit Online und Krautreporter an die jeweilige Leserschaft ergeben sich Schreckensgeschichten über den Sportunterricht. Wie können derartig negative Erfahrungen vermieden werden?
Trotz seines schlechten Rufes ist Sport in den Augen von Sebastian Spillner und Svenja Kehm ein tolles Fach. Sie lehren und forschen beide als wissenschaftliche Mitarbeitende der Professur für Sportdidaktik an der sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Seit dem Studium sind beide nicht nur aus persönlicher Sportaffinität von ihrem Fach überzeugt, auch aus didaktischer Perspektive habe Sportunterricht großes Potenzial, um Kinder bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu unterstützen. „Der pädagogische Doppelauftrag des Fachs ist die Erziehung zum und durch den Sport“, erläutert Kehm. „Schüler*innen sollen einerseits befähigt werden, Sportarten auszuführen. Andererseits sollen ihnen durch das Sporttreiben zum Beispiel Teamfähigkeit und Fairness vermittelt werden.“ Doch das übergeordnete und wichtigste Ziel des Sportunterrichts sei, zu lebenslangem Sporttreiben zu animieren. „Egal aus welcher Motivation heraus soll die Freude an einem aktiven Lebensstil geweckt werden“, so Kehm.
Das ist auch das pädagogische Anliegen von Frau Schmidt, Sportlehrerin an einem Leipziger Gymnasium. Sie will Schüler*innen die Grundlagen dafür vermitteln, im gesunden Verhältnis zu sich und ihrem

Sportdidaktik Sebastian Spillner findet, guter Sportunterricht muss alle einbeziehen. Foto: Sebastian Spillner
Körper ein Leben lang Sport treiben zu können. „Sportunterricht ist außerdem eine Möglichkeit, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken und Schüler*innen dazu zu ermutigen, über sich hinauszuwachsen und ihre Komfortzone zu verlassen“, findet Schmidt.
Ihren Oberstufen-Schüler*innen gefällt am Sportunterricht die Möglichkeit, soziale Kontakte zu knüpfen und Sportarten auszuprobieren. Kritisch sehen sie die Benotung: „Noten sind im Sportunterricht oft sehr subjektiv“, findet Janne. „Und oft sind diejenigen, die eine Sportart auch in der Freizeit ausüben, im großen Vorteil.“ Sid pflichtet ihr bei: „Insgesamt sind die Noten sehr von der jeweiligen Sportart abhängig und davon, ob diese einem liegt.“ Mitschülerin Maria findet, dass die Bewertungsmaßstäbe zum Teil zu hoch angesetzt seien.
In den Augen der Schüler*innen sollte es in der Oberstufe mehr Wahlmöglichkeiten für das Fach geben. Besonders Sportliche sollten Sport als Leistungskurs wählen können, weniger Sportbegeisterte sollten es, wie Kunst oder Musik, abwählen dürfen. Damit nur in die Abschlussnote zählt, was einem liegt. Für die Unterstufe wünschen sie sich vor allem mehr Vielfalt bei den Sportarten. „Wir hatten fast jedes Jahr nur Volleyball, Basketball und Leichtathletik“, erzählt Janne. „Ich mag diese Sportarten alle nicht besonders und deswegen war es jedes Jahr die gleiche Qual.“
Aus Sicht der Sportdidaktiker*innen sollten sich Sportnoten aus mehreren Dimensionen zusammensetzen, die für die Schüler*innen transparent sind. „Außer dem Ergebnis kann auch die Entwicklung oder eine soziale Komponente einbezogen werden“, konkretisiert Spillner. Auch das sächsische Kultusministerium empfiehlt in einer Handreichung zur Leistungsermittlung und Leistungsbewertung im Schulsport eine mehrdimensionale Bewertung.

Sportdidaktin Svenja Kehm sieht in Sportunterricht viel Potenzial, aber auch große Herausforderungen. Foto: Svenja Kehm
Positive Emotionen fördern
Guter Sportunterricht sollte verschiedene Zugänge und Motive zum Sporttreiben aufzeigen. „Nach dem Konzept der Mehrperspektivität gibt es sechs Sinnperspektiven, nach denen man Sportunterricht planen kann“, erläutert Spillner. „Leistung ist nur eine davon“, ergänzt Kehm. „Es gibt zum Beispiel auch die Perspektive des Miteinanders, des Ausdrucks oder der Risikoerfahrung.“
Vor allem kommt es im Kontext von Inklusion auf Reflexion an. „Wie genau der Unterricht gestaltet wird, muss immer neu auf die Bedürfnisse der Lerngruppe abgestimmt werden, um möglichst alle Schüler*innen einzubeziehen“, sagt Spillner. Dazu empfehlen die Sportdidaktiker*innen, neue Sport- und Spielarten auszuprobieren oder traditionelle Spielformen so zu modifizieren, dass alle gleichermaßen teilhaben können. „Auch ein Kind im Rollstuhl muss die Möglichkeit bekommen, spielentscheidend zu sein“, stellt Spillner klar. „Wenn man also zum Beispiel Brennball spielt, sollte man das Material und die Regeln so anpassen, dass alle am Spiel teilnehmen können.“
Sascha Leisterer erforscht das emotionale Erleben von Schüler*innen im Sportunterricht an der Professur für Sportpsychologie. Er sieht in dem Fach großes Potenzial für die Entwicklung emotionaler Kompetenzen: „Affekte und Emotionen sind immer präsent und beeinflussen unsere Persönlichkeitsentwicklung. Im Sportunterricht gibt es besonders viele Anknüpfungspunkte, um sie anzusprechen und zu reflektieren.“ Das liege daran, dass die Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz, Zugehörigkeit und dem Erleben von Neuem sehr relevant seien.
Für seine Dissertation bestätigte Leisterer mit einer Studie, dass Lehrkräfte positive Emotionen im Fach Sport durch die Unterrichtsgestaltung fördern können. Dies sei wichtig, um das Ziel des lebenslangen Sporttreibens zu erreichen. Allerdings können auch Emotionen wie Angst und Scham Teil des Sportunterrichts sein. Mit Situationen, die dies begünstigen, beschäftigt sich auch die Sportdidaktik. „Das ist eine große Herausforderung im Sportunterricht. Man muss als Lehrkraft sensibel dafür sein, ob eine Situation bloßstellend sein kann“, so Kehm.
Wie diese Empfehlungen in der Praxis umgesetzt werden, sei stark von der jeweiligen Lehrkraft, dem Kollegium oder auch der Schule abhängig. „Es scheint aber schon
eine Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Praxis zu geben“, findet Spillner. „Zum Beispiel stellen wir immer wieder fest, dass vielen Lehrkräften das Prinzip der Mehrperspektivität gar nicht bekannt ist.“
Das Sächsische Ministerium für Kultus antwortet darauf, dass die Berücksichtigung wissenschaftlicher Forschung durch Lehrpersonal dadurch gesichert werde, dass Lehramtsstudiengänge an wissenschaftlichen Hochschulen angeboten würden. Außerdem würden Mindeststandards für Studien- und Prüfungsinhalte durch die Lehramtsprüfungsordnung I gesetzt. Anforderungen in Bezug auf Inklusion seien durch das Sächsische Schulgesetz festgeschrieben.
Nachwirkungen im Erwachsenenalter
Im Sportunterricht negative Erfahrung zu sammeln, scheint nicht nur laut Erfahrungsberichten eine lebenslange Vermeidung von Sport zur Folge haben zu können: „Es gibt nur wenige Studien dazu, doch die bestätigen uns alle einen substanziellen Einfluss von negativem emotionalem Erleben im Sportunterricht auf die Aktivitäten im Erwachsenenalter“, erzählt Leisterer. „Den Begriff eines Traumas würde ich aus psychologischer Sicht jedoch nicht wählen. Die negativen emotionalen Erfahrungen können prägend sein. Dennoch handelt es sich im Unterschied zum Trauma um abgeschlossene Erfahrungen.“
Dass es im Sportunterricht auch Potenzial für unangenehme Situationen gibt, bestätigt die Erfahrung von Janne, Sid und Maria. „Vor allem in den unteren Klassen gab es das oft, wenn man etwas vor der gesamten Klasse vorzeigen muss, was einem nicht liegt“, sagt Janne. „Dieses Jahr können wir stattdessen ein Video von der Leistung an die Lehrkraft schicken.“
„Bei Leistungskontrollen sollten nur wenige Personen zusehen, und zwar ohne sich lustig zu machen“, findet Sid. Falls das doch passiert, erwartet er von der Lehrkraft, dass diese eingreift: „Wenn Leute respektlose Dinge sagen, sollte sie die auch mal ein bisschen anscheißen und nicht so tun, als ob sie nichts dagegen machen kann.“ Es sei unterschiedlich, wie ernst Lehrkräfte so etwas nehmen: „Wir hatten in der Unterstufe eine Lehrerin, die es sogar ignoriert hat, wenn Schülerinnen in ihrem Unterricht geweint haben. “ Die drei sind sich aber einig, dass ihre aktuellen Lehrkräfte achtsam und verständnisvoll sind.
Leisterer plädiert dafür, Emotionen wie Angst oder Scham nicht pauschal als schädlich zu betrachten: „Sie erfüllen auch wichtige Funktionen für den Selbstschutz. Wenn Lehrkräfte Lösungswege in entsprechende Situationen aufzeigen, lernen Schüler*innen, mit diesen Emotionen umzugehen. Zum Beispiel sollten Schüler*innen selbst bestimmen können, wer beim Bocksprung zusieht oder Hilfestellung gibt.“
Sportlehrerin Schmidt findet grundsätzlich, dass man sich in der Klasse nicht schämen sollte, weil man etwas nicht kann: „Schließlich sind wir in der Schule, um zu lernen.“ Dafür sei allerdings ein gutes Klassenklima wichtig. Da alle Schüler*innen und Klassensituationen unterschiedlich seien, gebe es aber kein Patent-Rezept, wenn doch unangenehme Situationen auftreten. Man bekomme sie wahrscheinlich auch nicht ganz vom Tisch. In solchen Situationen müsse man sensibel dafür sein, was gerade gebraucht wird, und in den Austausch mit Schüler*innen treten. „Einfach darüber sprechen: Was war an der Situation unangenehm? Wie kann man das umstrukturieren, damit es nicht mehr unangenehm ist? Da sollte man niemanden zu irgendetwas zwingen“, findet sie.
Titelbild: freepik


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