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  • Wer hat Edgar heute?

    Kolumnistin Isabella hat vor kurzem eine Runde um ihre ehemalige Schule gedreht – und ist dabei sentimentaler geworden als erwartet.

    Aktuell bin ich wegen eines Praktikums in meiner Heimatstadt Berlin. Es ist natürlich nicht das erste Mal seit meinem Umzug nach Leipzig vor zweieinhalb Jahren (zu Weihnachten und Ostern stehen ja immer die obligatorischen Familienbesuche an). Die Kindheitserinnerungen an jeder Ecke sind also nichts Neues für mich. Doch vor kurzem bin ich zum ersten Mal seit meinem Abitur an meiner alten Schule vorbeigelaufen. Und ich war selbst überrascht, wie sehr mich das berührt hat. 

    Ich bin nicht gerne zur Schule gegangen. Das lag vor allem daran, dass ich nicht sonderlich beliebt war. Ich wurde nie gemobbt und Freund*innen hatte ich auch, allerdings nicht viele, und wenn man unsere Klasse in „die Coolen“ und „die Uncoolen“ geteilt hat, gehörte ich ganz sicher zu letzteren. Ich habe nicht die Musik gehört, die die anderen gehört haben, habe weniger angesagte Kleidung getragen, war schüchtern und still, und überhaupt gab es einfach wenig, worüber wir miteinander hätten reden können. Ich hatte sehr gute Noten, aber wenn nicht gerade jemand von dir abschreiben will, ist das natürlich keine Währung, mit der du dir unter Vierzehnjährigen irgendwas kaufen kannst. Selbstbewusst musste man sein, doch das war ich wirklich nicht. Ich bin mit zwei Menschen zur Schule gegangen, die heute halbwegs bekannte Influencer*innen sind – das waren „die Coolen“, nicht das stille Mädchen mit Brille, das in Latein immer eine Eins schrieb und zuverlässig seine Hausaufgaben machte.  

    Die Autorin als Schulkind mit Zuckertüte.

    Am ersten Schultag war Kolumnistin Isabella noch halbwegs motiviert. Foto: privat

    Oft war Schule für mich der reinste Horror: zu viele Menschen, zu viele Augen, die mich beobachten, zu viele Stimmen in meinen Ohren, zu viel sozialer Druck. An keinem Ort hatte ich so viele Panikattacken wie in der Schule, und nichts habe ich so sehr gefürchtet wie Klassenfahrten, wenn ich eine ganze Woche lang nicht aus diesem Schulumfeld herauskam. 

    Doch als ich vor wenigen Wochen nach der Arbeit auf dem Weg zu einem Restaurant in der Nähe meiner alten Schule war, wo ich mit meiner Familie essen gehen wollte, konnte ich nicht anders, als eine kleine Runde um das Gebäude zu drehen, in dem ich acht Jahre meines Lebens verbracht habe. Es war, als wäre dieser Ort ein Magnet, der mich zu sich zog und es mir unmöglich machte, mich von ihm fernzuhalten. 

    Der Schulhof sieht jetzt anders aus. Er ist viel schöner, mit einem kleinen, bunt bemalten Gartenhäuschen, einem neuen Volleyballnetz und sogar ein paar Beeten und Pflanzen. Vor vier Jahren habe ich Abitur gemacht, wie konnte unser Schulhof sich in dieser kurzen Zeit so sehr verändern? Am Freitagabend, an dem ich dort war, war der Hof natürlich leergefegt, aber ich konnte mir gut vorstellen, wie Kinder und Jugendliche dort spielen, reden oder sich auf den Tischtennisplatten sonnen, so wie wir es früher getan haben. 

    Als ich am Haupteingang vorbeilief, den ich das letzte Mal bei meiner Abiturverleihung durchschritten habe, in festlichem Kleid und mit Mund-Nasen-Schutz im Gesicht, verspürte ich plötzlich den Drang, hineinzugehen und einen Blick auf den Vertretungsplan zu werfen. Jeden Morgen hat die ganze Schule sich dort versammelt, hoffnungsvoll, denn vielleicht ist ja gerade die schlimmste Lehrkraft des Tages krank oder die letzte Stunde fällt aus. Dieses Mal war ich vor allem sentimental: Ich wollte die vertrauten Namen und Kürzel lesen, den Geruch der Schulflure einatmen, noch einmal dieses Gefühl spüren, in die Schule zu kommen. Getraut habe ich mich letztendlich aber nicht; ich hatte zu viel Angst, einer Lehrkraft von früher zu begegnen.  

    Da meine Schulzeit endete, als die Coronapandemie anfing, fiel unser Abschied dürftig aus. Es gab keine große Party, keine Abireise und selbst bei der Verleihung wurde der Jahrgang in Gruppen geteilt, die sich nicht begegnen durften. Die Abiturzeugnisse wurden an einem Körbchen aus dem Fenster gelassen, das wir dann auf dem Schulhof unter Applaus von Eltern und Lehrkräften entgegennehmen durften. Als ich neulich wieder dort war, fast genau vier Jahre später, habe ich zum ersten Mal bedauert, mich nicht richtig verabschiedet haben zu können. Die negativen Erfahrungen von damals kamen mir plötzlich nicht mehr so schlimm vor. Ich habe nicht an meine eigene Unsicherheit gedacht, an das Schweigen, das mir die meisten meiner Klassenkameraden entgegenbrachten, oder an Lehrkräfte, die mich aufforderten, mich öfter zu melden. Ich habe an die Gelächter mit meiner damaligen besten Freundin gedacht, an rückblickend betrachtet ziemlich dämliche Schultheaterstücke, die wir damals natürlich für den absoluten Hit hielten, an entspannte Vertretungsstunden, gemeinsames Weihnachtsstern-Basteln mit unserem Mathelehrer und Sommerfeste, die wir größtenteils am Waffelstand verbracht haben. Ich habe an Klassenarbeiten gedacht, die besser ausfielen als erwartet, an den Geruch von Königsberger Klopsen in der Cafeteria und ans „Wer hat Edgar?“-Spielen auf dem Volleyballfeld. Mit diesem neuen Netz, das da jetzt hängt, könnte man das gar nicht mehr machen. Und wer „Wer hat Edgar?“ nicht kennt, hat sowieso etwas verpasst. 

    Wie wahrscheinlich die meisten Kinder musste ich mir früher den Satz anhören: „Genieß die Schulzeit, später wird es viel schlimmer.“ Wurde es nicht, ich finde mein Leben jetzt viel angenehmer als damals. Aber mit ein wenig Abstand kann ich inzwischen zumindest mit einem kleinen Lächeln an die Schule zurückdenken. 

     

    Titelbild: Pixabay

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