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  • Hessische Nacht

    Kolumnist Eliah berichtet aus den Erinnerungen eines Bahnreisenden.

    Es war keine wunderbare Nacht, liebe Leser*innen. Tatsächlich war es eine dieser Nächte, die den regelmäßigen Bahnreisenden bis in seine Albträume verfolgen können. Natürlich habe ich mich schon vor der Reise gefragt, ob es eine gute Idee ist, am 21. Dezember acht Stunden in Regios Deutschland zu durchqueren. Aber einen Tag volle Züge werde ich schon überleben, dachte ich. Ich bin schließlich Vielreiser, meine Ansprüche an Komfort sind entsprechend gering. 

    Mit dem Andrang der Weihnachtsreisenden und dem resultierenden Sitzplatzmangel hatte ich also gerechnet. Nicht aber mit dem Sturm. Nachdem ich die ersten Stunden meiner Reise planmäßig in vollen Zügen genossen hatte, stand ich nun in Kassel, um auf den Anschlusszug zu warten – der nicht kam. Und nicht kam, und nicht kam. Nicht mal eine Ankündigung der Verspätung gab es, also wollte man auch nicht den Bahnsteig verlassen, der Zug konnte ja jede Minute kommen. Gemeinsam mit anderen gestrandeten Seelen wartete ich in Regen und Wind. Es stellte sich heraus, dass der ganze Bahnverkehr in Deutschland durch einen Sturm lahmgelegt war. Keiner der Züge konnte den Bahnhof verlassen. 

    Ich akzeptierte, dass ich es in dieser Nacht nicht mehr nach Hause schaffen würde, und rief meine Stiefmutter in Frankfurt an. Frankfurt war die Endhaltestelle meines nächsten Zuges und schien daher noch verhältnismäßig erreichbar. Nachdem ich vier Stunden in Kassel umhergeirrt war, saß ich dann in einem Zug (ja, saß sogar!), der tatsächlich um halb neun abfuhr – ein Wunder, dass ich nicht in Kassel stranden würde, fernab aller mir bekannter Zivilisation.  

    Doch dann, natürlich – zu früh gefreut – nach ein paar Haltestellen kündigte der Schaffner an, dass dieser Zug wegen Bäumen auf den Gleisen nicht bis Frankfurt fahren würde, sondern nur bis Treysa. Wer noch nie von Treysa gehört hat: Irgendwo in Hessen. Muss man nicht kennen. Ich hoffe auch für dich, dass du es nie kennenlernen wirst. 

    Eliah und ein halb sichtbares Gesicht

    Bild von einer anderen Bahnreise (sorry an die abgeschnittene Person). Foto: privat

    Es sah also aus, als würde ich es nicht mal nach Frankfurt schaffen. Doch dann fand ich, ganz unerwartet, eine Verbündete. Ich hörte, dass zwei Sitze hinter mir eine junge Frau dem Mann vor ihr sagte, dass sie nach Frankfurt wollte. (Der Mann dagegen hatte Glück gehabt: Sein Ziel war tatsächlich Treysa.) Ich war alleine, sie war alleine, wir hatten das gleiche Ziel, ich wusste nicht, wie ich dorthin kommen sollte, also sprach ich sie an. 

    So lernte ich Indira kennen. Sie sagte mir, dass noch ein Zug zumindest bis Gießen fuhr, also warteten wir gemeinsam in Treysa. Eine Anzeigetafel dort meldete für irgendeinen Zug: „Heute ca. 400 Minuten später.“ 

    Die ganze Zeit über redeten wir. Sie sagte, sie sei aus Russland, ich sagte, ich kann eigentlich auch Russisch, sie konnte eigentlich auch Deutsch, aber Englisch war für uns beide einfacher, also blieben wir dabei. Wo in Russland, fragte ich. Tatarstan, sagte sie, sichtlich unsicher, ob ich es kennen würde – ich sagte, ein Freund von mir ist dort geboren, der, zu dem ich nächste Woche für Neujahr fahre. Auf Google Maps stellten wir fest, dass sein und ihr Geburtsort quasi nebeneinander liegen. Wie klein die Welt doch ist! Wie unwahrscheinlich, dass wir uns hier draußen getroffen hatten, gestrandet in hessischen Zügen. 

    Auf der Fahrt nach Gießen erzählten wir uns unsere Lebensgeschichten. Wir tauschten Instagram-Accounts aus, sie schrieb in mein Notizbuch. Wir hatten unwahrscheinlich viel gemeinsam: ähnliches Studium, ähnliche Interessen, ähnliche Freund*innen. Irgendwann sagte sie, sie habe das Gefühl, mich schon mal getroffen zu haben. Das war praktisch fast unmöglich, aber ich verstand, was sie meinte.  

    Wir schafften es also nach Gießen. Dort holte mich meine Stiefmutter in ihrer unendlichen Güte ab, damit ich in dieser Nacht noch nach Frankfurt kommen würde. Wir nahmen Indira mit. Später dachte ich, es war eigentlich nicht selbstverständlich, dass sie mitkam – mit Fremden ins Auto zu steigen wird ja im Allgemeinen nicht empfohlen. Aber als wir am Bahnhof auf das Auto warteten, kam mir dieser Gedanke nicht einmal in den Kopf. Wir waren keine Fremden mehr. 

    Im Auto teilten wir das Brot und den Tee, den meine Stiefmutter (wie gesagt, unendliche Güte) mitgebracht hatte. Wir brachten Indira zu ihrem Freund in Frankfurt und verabschiedeten uns mit dem Plan, uns mal gegenseitig zu besuchen. Es ist unwahrscheinlich, dass das jemals passieren wird. Inzwischen hat sie anscheinend ihren Instagram-Account gelöscht, sodass nur ein weiterer Zufall uns wieder zusammenbringen könnte.  

    Erst um ein Uhr nachts, nach 13 Stunden Reise, kam ich an, und das nicht mal in der Stadt, in die ich eigentlich wollte. Trotzdem war ich irgendwie froh. Ohne das Pech mit der Bahn hätte ich diese Begegnung nicht erlebt. Eine ganzer Augenblick der Begegnung und des glücklichen Zufalls! Reicht das nicht für ein Leben schlechter Bahnfahrten? 

     

    Foto: Pixabay

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