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  • „Uns einfach als Menschen begegnen“

    Im November fand das rassismuskritische Festival „Gefahrenzonen“ statt. Die Organisator*innen sprechen im Interview über politische Arbeit, offene Gesprächsräume und gegenseitiges Vertrauen.

    Vom 3. bis 10. November veranstaltete der Verband binationaler Familien und Partnerschaften in der HGB Galerie das Festival „Gefahrenzonen – Rassismus ver(un)sichert“. „Wem wird Sicherheit aktiv verwehrt und welche Konsequenzen hat das für diese Menschen?“ mit Fragen wie diesen beschäftigen sich die Referent*innen in Vorträgen, Lesungen, Workshops und Filmbesprechungen. Die Organisator*innen sind Anna Sabel und Mehmet Arbag, Geschäftsführerin und Projektleiter des Verbandes. Sie betreiben seit vielen Jahren machtkritische und diversitätsbewusste Bildungsarbeit zu antimuslimischem Rassismus, Geschlechterverhältnissen, Intersektionalität, Kolonialität und Mediendiskursen. 

    luhze: Ihr seid beide in leitenden Positionen im Verband binationaler Familien und Partnerschaften tätig. Wie sieht die Arbeit eures Verbandes aus?  

    Anna Sabel: Bundesweit gibt es den Verband seit 50 Jahren, in Leipzig seit 30 Jahren. Hier haben wir einen rassismuskritischen Schwerpunkt, konzentrieren unsere Arbeit auf antimuslimischen Projekte Rassismus. Für diese Arbeit wird unser Verband auch gefördert. Dazu gehören unsere beiden großen Projekte, die Mehmet leitet, „Kompetenznetzwerk Islam- und Muslimfeindlichkeit“ und „(Un)Sichtbarkeiten“ in der Migrationsgesellschaft“. 

    Mehmet Arbag: Und wir versuchen eine Umsetzungsart von Rassismuskritik in politischer Arbeit zu finden. Ganz konkret machen wir dann Dinge wie Workshopmaterialen herstellen, Workshops geben, Beratung von Kunst- und Kulturinstitutionen. Wir versuchen auch selbst über Produktionen verschiedener Formate, das Thema breiter in die Welt zu tragen. 

    Sabel: Genau, wir haben vier Bücher rausgegeben, unser zweiter Dokumentarfilm kommt demnächst, wir haben einen Podcast, veranstalten Ausstellungen. Wir versuchen, unsere Formate breit aufzustellen. Das Festival „Gefahrenzonen“ war dabei schon eins unserer größeren Projekte. 

    Ihr schreibt, dass es euch mit dem Festival darum ging, der Kriminalisierung von Migrant*innen und der Rassifizierung von Gewalt etwas entgegenzusetzen und zu zeigen „Das ist nicht normal! Das sind Strukturen, die es abzubauen gilt“. Wie seid ihr dieses große Ziel angegangen? 

    Sabel: Wir sind schon lange genug politische Bildner*innen, um keine sehr hohen Ziele mit dem Festival zu verbinden. Also wir haben keine Sekunde den Anspruch gehabt, beispielsweise Menschen mit einem geschlossen rechten Weltbild zu erreichen. Eine Veranstaltung wie dieses Festival kann Dinge anstoßen wie das Innehalten und die Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse, kann Irritation bewirken, die weitere Prozesse anstößt. Das waren unsere Ziele. Und das haben wir umzusetzen versucht, indem wir Referierende einluden, die wir gut kannten und von denen wir wussten, dass sie das gut können. Das hat auch gut funktioniert. Die Leute, die die Veranstaltungen des Festivals anleiteten, sind sehr inspirierende Persönlichkeiten, die schon lange im Feld sind. 

    Wie habt ihr das Festival dann erlebt? Waren Atmosphäre und Stimmung in den Veranstaltungen so wie ihr es euch erhofft habt? 

    Sabel: Die Stimmung hat meine Erwartungen übertroffen. Gerade wegen der momentan konflikthaften politischen Verhältnisse, waren wir schon darauf gefasst, mehr aushalten zu müssen an Reibungen und Unruhe. Ich habe aber einen sehr offenen, weichen und angenehmen Raum erlebt, in dem dann tatsächlich auch wirklicher Diskurs passieren konnte. Das wurde gut ausgehalten. Also es waren einfach ganz tolle Besucher*innen da! 

    luhze: Wie kann das gelingen? In politischen Diskussionen entsteht ja schnell sehr viel Reibung. Wie können solche offenen, weichen Diskussionsräume geschaffen und aufrechterhalten werden? 

    Arbag: Das, was ich jetzt sage, klingt sicher als hätte ich jahrzehntelange Erfahrung, wäre völlig frei davon. Dem ist nicht so. Auch bei mir sind diese inneren Aushandlungsprozesse immer wieder da. Nichtsdestotrotz hatte ich keine Zweifel daran, dass uns unser Ziel gelingen kann. Wir lassen nicht jedes Wort so schwer wiegen, wie es heute oft geschieht. Es wird viel moralisiert und dabei manchmal übersehen, dass es ja Menschen sind, die sich gegenüberstehen und sprechen und streiten. Ich glaube, wenn wir es schaffen diese Schwere da rauszunehmen und wir uns einfach als Menschen begegnen, denen zuhören, die sich mit Themen beschäftigen, weil es sie wirklich interessiert oder weil sie davon gesellschaftlich betroffen sind, nur dann ist es möglich, Reibung und Konflikthaftes überhaupt auszuhalten. Das Lernen damit besser umzugehen hat glaube ich auch im Publikum über die Woche des Festivals stattgefunden. Ich hatte das Gefühl, dass ganz am Ende klar war, „Wir vertrauen dem Festival und unserem Gegenüber jetzt“ Da war viel mehr möglich. Denn Vertrauen braucht es und das muss erstmal aufgebaut werden. 

    Sabel: Ja, absolut. Eine Gelassenheit und Fehlerfreundlichkeit zu haben, das ist wichtig. Sich klarzumachen und auch annehmen zu können, dass Menschen sich vielleicht noch nicht so ausdrücken können, wie wir uns das wünschen. Ich glaube auch, dass am ersten Abend ganz viel passiert ist. Da haben drei Menschen lange erzählt und sich sehr geöffnet. Wenn Menschen sich verletzlich machen, zeigen und wirklich als Menschen greifbar sind – so etwas macht ganz viel. Das ist ein wahnsinniges Geschenk. 

    luhze: Was konntet ihr aus den Veranstaltungen für euch persönlich mitnehmen? 

    Sabel: Ich habe sehr viel Respekt vor den Leuten, die da waren, entwickelt und denke nochmal mehr als vorher, wie toll es ist, wenn Menschen sich zeigen. Und ich habe auch viel darüber gelernt, wie ich jetzt besser über Staat, staatliches Handeln und Verantwortung von Staat reden kann. In dem Vortrag am Freitag habe ich nochmal anders verstanden, wie Staat erst durch dessen Adressierung entsteht. Das verändert zum Beispiel, wie wir uns auf Solidarisierungen konzentrieren, wie wir uns, die wir an gerechteren Verhältnissen interessiert sind, in den Fokus setzen können, Bündnisse schmieden und Aktivitäten gemeinsam planen, ohne Staat als unser gegenüber zu adressieren. In einer anderen Veranstaltung wurde der Begriff „militantes Care“ eingeführt. Das fand ich auch spannend. Wir können viel über staatliche Repressionen sprechen. Was es aber auch gibt, ist staatliche Vernachlässigung. Wenn wir jetzt alternativ denken wollen, können wir einerseits ein machtvolles Gegen-Repressionen-Vorgehen denken. Gleichzeitig müssen wir aber auch „Care“ eine andere Bedeutung beimessen. 

    Arbag: Ich konnte auch super viel mitnehmen. Allein schon was wie kollektive Prozesse funktionieren oder nicht funktionieren. Und auch zu abolitionistischen Theorien, wie diese mit postkolonialen Theorien zusammenhängen, wie das eine das andere im Denken befruchtet. 

    In der HGB Galerie besteht weiter die Möglichkeit, sich selbst zu Rassismus zu bilden. Foto: Adrian Viktor Lück

    Leser*innen von luhze sind vor allem Studierende – Menschen, die in verschiedenste Bereiche der Gesellschaft gehen und ihre Zukunft gestalten werden. Wie kann die eigene Haltung in die Arbeit eingepflegt werden? 

    Arbag: Wir sind in Verhältnissen, aus denen wir nicht rauskommen. Das heißt es gibt kein Außerhalb. Es gibt weder in unseren Professionen noch in unserem privaten Zuhause nichts, was nicht auch durch die bestehenden Verhältnisse markiert oder determiniert ist. Und ich glaube, der Clue ist, von theoretischen Ansätzen so zu lernen, dass man das nicht nur auf das Gelernte reduziert, sondern eine praktische Umsetzung dessen findet. Es passiert also ganz viel, wenn man sich sagt: „Okay, ich schau jetzt in mein Umfeld, wo das, was ich da gelesen und gehört hab, sich auch übertragen lässt. Wo schaffe ich es, Beziehungsweisen anders zu denken? Wie kann ich meine Arbeit anders annehmen, anders beschreiben?“ 

    Sabel: Wir sagen ja von uns, dass wir Rassismus kritisch arbeiten. Und Rassismuskritik ist eine Form von Machtkritik. Das bedeutet, sich klarzumachen, dass wir Teil von machtdurchzogenen Verhältnissen sind. Wenn uns das richtig klar ist, dann ist das für mich etwas wahnsinnig Entlastendes. Weil das sofort diesen moralisierenden Druck rausnimmt. Ich weiß sofort, wenn ich mich verhalte, dann reproduziere ich an ganz vielen Stellen auch diese Machtverhältnisse. Und dazu versuche ich immer wieder in ein kritisches Verhältnis zu gehen. Aber trotzdem kann ich damit umgehen, dass mir das passiert. Deswegen begreife ich mich als Lernende – die ganze Zeit. Und das ist dieses Moment sich selbst einfach nicht so wahnsinnig ernst zu nehmen und Kritik auch immer wieder gegen mich selbst zu richten, ohne dass es mich verletzt. Ich finde das funktioniert total gut. 

    Arbag: Ja, und es braucht die Räume des verständnisvollen Austauschs. Räume, in denen ein anderer Ton, eine andere Schärfe herrscht. Harmonie bringt so viel. Es passiert so viel in den Menschen, wenn es um Vertrauen, Austausch und gemeinsames Lernen geht. 

    Bis zum 20. Januar kann der offene Studienraum der HGB Galerie besucht werden. Dieses Projekt dient als inhaltlich-räumliche Erweiterung des Festivals und bietet Besucher*innen die Möglichkeit einer eigenständigen Auseinandersetzung mit der rassismus- und antisemitismuskritischen sowie queerfeministischen Texten, Videoinstallationen und Collagen. Beiträge des Festivals können ebenfalls nachgehört werden. Der Studienraum ist von Montag bis Freitag zwischen 14 und 18 Uhr geöffnet. 

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

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