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  • Nicht immer lacht Mamma Roma

    Pasolini schildert in seinem Sozialdrama von 1962 die Geschichte der Prostituierten Mamma Roma und ihres Sohnes Ettore. So lebensnah wurde das Thema Prostitution lange nicht mehr verfilmt.

    Eine Hochzeit auf dem Land: Ein paar kleine Schweinchen werden durch ein Tor in eine Hochzeitsgesellschaft hereingelassen. Als lebendige Geschenke hat man sie mit kleinen Hütchen und Schleifen verkleidet. Es gibt es ein großes Gelächter darüber, dass sie wie kleine Menschen aussehen. Mamma Roma ist der Star unter den Gästen, sie ist bester Laune, wird gebeten ein Lied zu singen und lacht frenetisch. Was denn so lustig sei, fragt man sie. Die Sklaverei sei jetzt endlich vorüber, gibt sie zurück und lacht lauthals weiter. Ihrem ehemaligen Zuhälter, auf dessen Heirat sie sich dort befand, scheinbar entkommen, will sie mit ihrem 16-jährigen Sohn Ettore ein neues Leben in einem der Vororte Roms beginnen.

    Ettore, der von den Nebeneinkünften seiner Mutter erst später erfahren wird, ist in der Pubertät und dabei „ein Mann zu werden“. In diesem Viertel heißt das für die Jungs in seinem Alter, den Straßenstrich oder die benachbarte Prostituierte Bruna zu besuchen, die mit den Jungs mehr oder weniger befreundet ist. Mit ihr wird Ettore sein erstes Mal haben. Daneben halten sich die Jungen mit Kleinkriminialität wie Diebstählen und dergleichen über Wasser. Sie spielen Karten oder stolzieren als Bande durch den Vorort. Arbeit hat keiner von ihnen, auch Bildung im konventionellen Sinn nicht, über die Familien erfahren wir nichts. Es sind Jungen, die Erwachsene spielen.  

    Der Vorort Roms ist eher ländlich geprägt, dem italienischen Wetter und Lebensstil entsprechend, sehen wir Naturbilder und die Dolce Vita, irgendwo zwischen Kleinstadt und Machismo. Sicher bekommt man hier nicht die Bilder zu sehen, die das Thema der Prostitution so einengen: keine dunklen Gassen, dampfenden Kanaldeckel oder tiefergelegte Wagen und Schießereien. Auch keine Bordelle mit Poledancestangen und Reizwäsche.
    So sind auch die Freudenmädchen keine traurigen Gestalten, sondern Souveräne im Rahmen ihrer Möglichkeiten: Bruna beispielsweise wird als einfaches Mädchen aus ländlicher Familie gezeigt, das mit ihrer Tochter bei den Eltern lebt und sich Geld dazuzuverdienen scheint.  

    Anna Magni als Mamma Roma

    Anna Magni als Mamma Roma

    Gewaltlos geht es jedoch nicht zu. Mamma Roma wird von ihrem ehemaligen Zuhälter Carmine immer wieder erpresst. Was anfangs nur bösartig wirkt, begann, erfahren wir später, mit seiner Hilfe aus bitterer Armut und seiner Liebe. Obwohl sie die Prostitution hinter sich lassen will, kann sie es nicht. Sie will nicht nur ihr Gesicht wahren, sondern auch Ettore vor Carmine schützen. Mithilfe von Erpressung besorgt sie für ihn Arbeit, welche er jedoch hinschmeißt, als er von der Profession seiner Mutter erfährt, nicht nur in seinem Vertrauen, sondern vor allem in seinem Stolz verletzt.

    Es gehört zu den großen Stärken dieses Films, Prostitution weder zu glorifizieren noch sentimental zu verteufeln. Ohnehin: Sexszenen gibt es in diesem Film nicht. Vielmehr sehen wir Metaphern: Wenn Mamma Roma nachts auf dem Parkplatz den Asphalt hinunterläuft, wird sie von viele Leuten, Bekannten und Unbekannten, Gruppen von Männern, Frauen und Kolleginnen in Gespräche verwickelt. So schnell die Gespräche beginnen, so schnell sind sie wieder vorbei und die Gesprächspartner machen sich davon. Es ist wenig subtil: Mamma Roma selbst ist ein Sinnbild. Sie personifiziert die Stadt: Rom, soll das heißen, ist käuflich, flamboyant, also ausgefallen, exaltiert, leidenschaftlich und erotisch. 

    Warum sollte man diesen Film, der nun schon fast 60 Jahre alt ist, noch anschauen? Notabene starb die Schauspielerin Anna Magni, die die sinnliche Protagonistin verkörperte, bereits 1973 und wäre heute 115 Jahre alt!
    Zum einen, weil er, wie schon gesagt, das Thema Prostitution, freilich auch aus historischer Distanz der 1960er Jahre heraus, ohne die uns vertrauten Klischees darzustellen versteht. Mamma Roma ist eine lebenslustige, selbstbewusste, elegante, würdevolle, witzige Frau und nicht nur ein Opfer oder eine Proletin.
    Zum zweiten besticht dieser Film, der dem Neorealismus zugeordnet wird – einer Filmschule, die sich nach dem zweiten Weltkrieg unter anderem im postfaschistischen Italien zur Aufgabe setzte, die ungeschönte Wirklichkeit darzustellen und sich dabei besonders den sozialen Fragen und Zusammenhängen zuwandte –, durch seinen Naturalismus. Die Geschichte knüpft damit an die Erfolge des Verismo, der in Italien bereits hundert Jahre zuvor Erfolge feierte, an. Vertreter wir Giuseppe Verdi, hatten sich bereits dem Alltag, der Prostitution und zum Teil sozialen Problem angenommen. Dazu gehörte beispielsweise seine Oper Rigoletto (1851) mit der bekannten, in der Oper durchaus tragisch und ironisch gemeinten Kanzone, La Donna È Mobile (/ Qual piuma al vento, zu Deutsch „Die Frau ist launisch / wie Federn im Wind“).
    Pasolini, für seinen Teil durch die Schule des Naturalismus gegangen, ließ fast alle Rollen von Laiendarstellern spielen. Der Film ist – wie seine historischen Vorgänger – durchkomponiert und großartig geschrieben. Er zeichnet sich durch nicht nur durch soziale, sondern auch erzählerische Analytik aus: aufgenommene Handlungsstränge, Motive und Motivationen finden allmählich zueinander. Das Schauspiel ist glänzend, die Gesichter ungeschönt und aus dem Leben gegriffen.  

    Ettore (Ettore Garofolo) bei den Händlern im Vorort

    Ettore (Ettore Garofolo) bei den Händlern im Vorort

    Wer sich für „klassisches“ Kino interessiert und wissen will, „wie man es macht“, kriegt hier kein Fast Food serviert, wird sich aber auch nicht langweilen. Der Film lief im italienischen Original mit deutschen Untertiteln im Rahmen des Cinema! Italia! in den Passage Kinos am 19.12. Wer den Film schauen möchte, findet einen Ausschnitt:
    MAMMA ROMA | TRAILER | https://www.youtube.com/watch?v=f6ej0btJX2c   

    Neben diesen beiden Hinweisen, soll noch auf ein weiteren Film zu diesem Thema empfohlen werden, der wohl die meisten Zuschauer*Innen berühren wird. Gemeint ist der er Dokumentarfilm Whores’ Glory des Österreichers Michael Glowagger aus dem Jahr 2011.
    WHORES’ GLORY Trailer | https://www.youtube.com/watch?v=sWk2UYNxZuE

     

    Bilder: missingFILMs GmbH

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