• Menü
  • Film
  • Eine andere Wahrnehmung

    Der Himmel über Berlin ist schwarz-weiß, bis er farbig wird. Am Ende von Wim Wenders’ Meisterwerk Der Himmel über Berlin kann man Gedichte über diese Einsicht schreiben.

    Der Himmel über Berlin ist vieles – für mich ist der Streifen nicht nur ein Film, sondern das heftigste Kinoerlebnis, das ich jemals hatte. Aber der Reihe nach.

    Eines Abends in Berlin wurde eines Morgens in Berlin. Ich habe nicht geschlafen. Bin sehr emotional drauf. Und beschließe, ins Kino zu gehen. Dort läuft eine Wiederaufnahme von Wim Wenders‘ Der Himmel über Berlin von 1987.

    1987 war der Zweite Weltkrieg fast so nah, wie das Jahr 1987 von unserer Gegenwart entfernt ist. – Das ist mein erster Gedanke.

    Endlich kein durchlässiges Schwarz-Weiß-Wesen mehr – Exengel Damiel (Bruno Ganz) muss sich erstmal an seinen neuen Körper gewöhnen.

    Die Kamera fliegt über Berlin und der Krieg ist immer noch gegenwärtig in den Aufnahmen dieser geteilten Stadt. Wir nehmen die Perspektive eines Engels ein. Gespielt von Bruno Ganz. Und auf einmal können wir alles. Von einem „wir“ zu sprechen geht etwas zu weit. Ich spreche mal abstrakt von den Zuschauer*innen.
    Engel schweben durch Berlin. Die Kinder sehen sie, sie sehen alles. Ein Kaleidoskop des menschlichen Lebens. Die Kamera schwebt durch Innenräume, über Straßen, in Autos, alle Gedanken sind laut, die Wechsel sind rasant. Die komplette Reizüberflutung.
    Dann ein Gedicht von Peter Handke. Ich zitiere es nicht ganz, aber es ist der Film in a nutshell:
    Als das Kind Kind war,
    wusste es nicht, dass es Kind war,
    alles war ihm beseelt,
    und alle Seelen waren eins.
    In diesem Film ist wirklich alles verbunden.  Und es werden dutzende Geschichten erzählt oder angeschnitten.
    Ausgangspunkt sind die beiden Engel, deren Namen ich vergessen habe. Gespielt von Bruno Ganz und Otto Sander sehen sie eigentlich zu cool aus, um Engel zu sein. Otto Sander ginge auch easy als Mephisto durch. Und hin und wieder frage ich mich, ob er nicht genau das ist.
    Das Problem der Engel: Sie sind immer außen vor, sie wären auch gerne mal mittendrin, aber da sie mit allem so intensiv verbunden sind, haben sie keine Individualität. Angedeutet wird das mit der Schwarz-Weiß-Aufnahme, die den Großteil des Films beherrscht.
    Dieses Außenvorsein bei fast schon überrollender Reizwahrnehmung ist visuell, tonmäßig und sprachlich so genial umgesetzt. Ich habe mich sehr darin wiedererkannt und noch nie bei einem Film so viel geweint oder eher gesagt, ständig die Zähne zusammengebissen, weil ich sonst losgeschluchzt hätte. Und dass ich bei Filmen mal weine, ist superselten. Ja, wenn ich nicht geschlafen habe, bin ich einen guten Ticken emotionaler, aber trotzdem… Ich hatte fast den ganzen Film über Tränen in den Augen.
    Jedenfalls kam das nicht von irgendwoher. Mir war in jeder Sekunde bewusst, was hier passiert: Jemand hat meine Wahrnehmung der Welt sehr verfremdet und mit einer grandiosen Formsprache an eine Leinwand geworfen. Bum! Identifikation auf fast hundert Prozent. Wie selten das ist. Sowas kann nur Kunst.

    Unsichtbar und doch anwesen – Engel Cassiel (Otto Sander) führt seinen AUftrag als Schutzengel eher schlecht als recht aus, sieht dabei aber umwerfend cool aus.

    Aus einer kritischen Perspektive kann ich sagen, dass es ein, zwei Szenen gibt, die etwas überkandidelt oder ungelungen sind. Und das gesamte letzte Drittel ist wie der zweite Teil dieses einen Films, den du so magst, der eine schlechte Fortsetzung bekommen hat, in der es aber immer noch grandiose Szenen gibt.

    Thematisch deckt der Film einiges ab: Die gesamte deutsche Nachkriegshistorie, die Entwicklungsgeschichte einer Zirkusartistin, Gedanken eines Stadtchronisten – ungefähr ein Dutzend Einzelschicksale.
    Und Colombo, falls den noch jemand kennt. Colombo als Exengel ist jetzt Filmstar. Das ist der Teil des Films, der am witzigsten ist. Und das tut gut, denn, wenn man dem Film eines vorhalten kann, dann, dass er einen Ticken zu schwer ist. Bezogen auf die Stimmung.

    Das Geniale an Der Himmel über Berlin ist die Machart: die Form, das Schauspiel, die Kameraführung, die eingesprochenen Texte.
    Das Grundthema ist basal: Selbstfindung im Angesicht einer totalen Reizüberflutung. Der Tanz auf dem Trapez der Stimmungen. Dinge, die wohl jeder Mensch kennt und die heute im Rahmen von Begriffen wie Neurodiversität oder dem Bewusstsein für psychische Erkrankungen viel geläufiger sind, als sie es in der Entstehungszeit des Films waren.

    Als ich aus dem Kino komme, bin ich etwas dolle überwältigt. Und hätte mir gewünscht, dass sich Wim Wenders das letzte Drittel des Films gespart hätte, wobei das jetzt nicht schlimm ist. Aber ich hatte das Gefühl, er hat nach einem perfekten Ende gesucht – obwohl sich schon hundertmal die ideale Szene dafür geboten hatte.
    Deswegen lasse ich diese Rezi jetzt auch zu Ende gehen. Geht ins Kino oder streamt das Ding irgendwo, es lohnt sich!

     

    Fotos: 1987 Road Movies – Argos Films; Mit freundlicher Genehmigung der Wim Wenders Stiftung – Argos Films

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Aus der Gropiusstadt auf die Berlinale

    Felix Lobrecht, deutscher Stand-Up Comedian und Podcast-Host, hat seinen Roman „Sonne und Beton“ zusammen mit Filmregisseur David Wnendt („Kriegerin“, „Feuchtgebiete“) verfilmt.

    Film | 25. Februar 2023

    „I’m having this infinite dream of you“

    Der Dok-Film „A Million“ ist Zeugnis einer klassischen Reiseroute: Die Seidenstraße. Dabei verzichtet der Film fast gänzlich auf Handlung und setzt auf seine szenischen Bilder.

    Film | 17. November 2021