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  • Von Wein, Papphüten und Pilgrims – Thanksgiving feiern

    Die Weihnachtszeit beginnt für Kolumnistin Daria - typisch amerikanisch - mit Thanksgiving bei ihrer Oma. Vor dem historischen Hintergrund ein fragwürdiges Fest. Und doch ein Anlass zur Dankbarkeit.

    Seit ich denken kann, steht kurz vor Winteranfang ein Besuch bei meiner Großmutter fest. Der vierte Donnerstag im November, Thanksgiving. Ich backe einen Pecan Pie, der den ganzen Abend von ihr gelobt werden wird (auch wenn er vielleicht nicht ganz so gut gelungen ist). Wir bekommen jedes Jahr die Anweisung, den Tag über nichts zu essen. Am Ende wird sich das Befolgen dessen gelohnt haben: Der Tisch ist gedeckt mit Truthahn, Cranberrysoße, Salaten und Bratensoße, Brot, Maiskolben und anderem Gemüse. Es gibt geschälte Orangen mit Kokosraspeln, Wasser, Säfte und Wein. Die Wohnung meiner Großmutter, mit ihren schweren Teppichen und dunklen Möbeln, ist geschmückt mit Kerzen, Untersetzern in Form von Herbstblättern und einer glitzernden Truthahn-Girlande. Trashig, aber 100 Prozent meine Oma: Die keine Gelegenheit verstreichen lässt, um zu sich einzuladen, um gut zu essen und vor allem gut zu trinken.  

    Die Liebe zum Gastgeben, gut Essen und Trinken hat Kolumnistin Daria wohl unter anderem von ihrer Großmutter. Foto: privat

    Aufgewachsen auf einem Bauernhof in Südtirol hat sie sich daran gewöhnt, Zugriff auf den besten Wein zu haben und lässt ihn sich noch immer gerne mitbringen, wenn sie Besuch aus ihrer Heimat bekommt. Aber es hat sich scheinbar bewährt, denn mit ihren nun 94 Jahren sitzt sie noch immer mit uns vor dem vielen Essen, hebt alle paar Minuten ihr Glas, um wieder auf etwas Neues anzustoßen, erzählt von Reisen mit ihrer besten Freundin, die neben ihr sitzt und zustimmend nickt, und fragt nach, wie weit ich es aus meiner neuen Wohnung zur Uni habe. Sie ist eine besondere Person, manchmal denke ich an ein Zitat aus „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky, wo die Enkelin fühlt, ihre Großmutter sei „seit Beginn der Zeit“ da. Auch meine Großmutter hat an verschiedensten Orten gelebt, hat mehr Bekannte als ich es wohl je haben werde, sie bekommt noch heute Anrufe von ihrer Familie und Freund*innen aus Italien, den USA und hier. Mir fällt schwer zu glauben, dass sie schon Erinnerungen an die NS-Zeit hat, als ihre Eltern auf dem Bauernhof, wo sie gemeinsam lebten, jüdische Menschen versteckten. Es war scheinbar nie langweilig bei ihr: Sie erzählt zum Beispiel davon, wie sie gegen den Willen ihrer Eltern nach England zog und deshalb dort ohne deren finanzielle Unterstützung auskommen musste. Damals nahm sie eine Stelle an, um für reiche Leute die Post zu öffnen und Zeitung vorzulesen. In dieser Zeit, in ihren 20ern also, war sie vor Ort als die damals gleichaltrige Queen Elisabeth gekrönt wurde. Es ist schwer zu fassen, dass meine Oma all das schon erlebt hat und jetzt vor uns sitzt, heute sicher ruhiger und geduldiger als früher, doch noch immer voller Geschichten. Inzwischen erzählen wir mehr und sie hört zu oder lehnt sich im Stuhl zurück, wenn sie den Gesprächen kurz nicht richtig folgen kann. Aber nach einer Weile ruft sie „Happy thanksgiving“, hebt ihr Glas und alles ist wie immer.  

    Naja, „Happy thanksgiving“ – so sehr ich die Anstoß-Begeisterung meiner Großmutter mag, so frage ich mich doch, was wir denn eigentlich feiern. Dass sie dieses Relikt aus der Ehe mit meinem Großvater und deren gemeinsamen Leben in den USA übernommen hat, wundert mich nicht. Doch was ist der Hintergrund von dem Fest selbst? Ich denke an meine Zeit in der Grundschule zurück, einem amerikanischen Kosmos in Westberlin. Daran, wie wir Theaterstücke aufführten, verkleidet als „Pilgrims“, die britischen Siedler*innen. Mit Hüten aus schwarzem Pappkarton auf dem Kopf, untenrum Gewänder, großen Gürteln mit breiten Schnallen. Ich denke an unsere Bastelaktionen zu dem Fest, an Zeichnungen von der „Mayflower“, einem Boot, mit dem die Siedler*innen aus Europa in die heutigen Amerikas übersetzten. Das ist unser Grund zu feiern? Was ist damals überhaupt alles passiert? Weit verbreiteten Legenden nach geht das Fest zurück auf ein Erntedankfest im Jahre 1621, abgehalten im heutigen Massachusetts. Lange Zeit war meine einzige Perspektive darauf die vereinfachte, US-amerikanische Erzählung von einer Überseefahrt, einem Aufeinandertreffen mit der indigenen Bevölkerung und einer großen Speisetafel, wo alle am Ende glücklich zusammen essen. Und das Highlight: Alle steuern ihre eigenen, für die „andere Seite“ unbekannten Lebensmittel bei, so dass alle etwas lernen und davon profitieren. Die Mythen von einem friedlichen Erstkontakt und indigenen Personen, die die Europäer*innen mit offenen Armen in Empfang nehmen, um ihnen nach dem symbolischen Mahl das Land zu überlassen,  können den historischen Gegebenheiten nicht entsprechen. Inzwischen ist selbst meine ausgiebige „Mayflower-Prägung überholt und ich blicke mit Skepsis auf dieses Fest, das die komplexen Beziehungen zwischen den europäischen Siedler*innen und den indigenen Völkern nicht ansatzweise berücksichtigt. Ganz im Gegenteil handelt es sich bei dieser Erzählung um eine grobe Verzerrung der Historie, die symbolisch herangezogen wird, um Patriotismus zu lehren. Viele meiner Ex-Lehrkräfte würden argumentieren, das haben sie nicht gewollt, ich kann sie geradezu hören. Dass sie uns beibringen wollten, zu hinterfragen. Thanksgiving als Anstoß zum Reflektieren über die großen Fragen von Migration und Zusammenkunft, von Frieden, von Dankbarkeit. Ich jedenfalls wünsche mir, dass die Kinder, die heutzutage auf meiner damaligen Grundschule sind, sich den großen Themen der Menschheit auf andere Art widmen als mit Pilgrim-Kostümen und Papphüten.  

    Und dennoch: den Feiertag aufgeben werde ich nicht. Thanksgiving basiert auf Mythen und sollte uns zweifellos weder Geschichte noch Werte lehren. Bestenfalls dient es jedoch als Erinnerung, dankbar zu sein. Wenn ich mit meiner Familie und Freund*innen vor diesem Festessen sitze, kann ich nicht anders als denken, dass ich so viel Anlass zur Dankbarkeit habe. Von dem leckeren Essen vor mir ganz abgesehen und auf das Risiko hin, absolut unbeschwert rüberzukommen – dem ist natürlich oft auch nicht so: Aber eine grundlegende Dankbarkeit spüre ich. Dass ich ein Zuhause habe, inzwischen sogar mehrere. Dass ich Krieg und Vertreibung nie am eigenen Leib erfahren musste. Dass es meiner Familie gut geht und wir uns lieb haben, dass meine Oma noch immer ihr Glas hebt und uns zum 10. Mal zuprostet. Dass ich so ein erfülltes Leben mit vielen besonderen Menschen darin habe, und das sogar, obwohl ich noch keine 90 Jahre Zeit hatte.  

     

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