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  • „Das Drama von Mariupol“

    In der Schaubühne Lindenfels berichteten Überlebende in einem Theaterstück von der Bombardierung des Mariupoler Theaters. luhze-Autorin Laura war dabei und schildert das Erlebte.

    Der Theatersaal der Schaubühne Lindenfels fasst etwa 200 Plätze. Am 13. Mai um 20 Uhr ist er bis auf den letzten Platz gefüllt. Es müssen sogar noch Stühle dazu gestellt werden. Das Theater Mariupol ist zu Gast und spielt „Das Drama von Mariupol“. Autor ist Oleksandr Gavrosh, Regie und musikalische Leitung übernahm Yevhen Tyshchuk.  

    Bei dem Stück handelt es sich gar nicht so sehr um ein Theaterstück, vielmehr um ein dokumentarisches Zeugnis, basierend auf den Erlebnissen der fünf ukrainischen Darsteller*innen. Vera Lebedynska, Dmytro Murantsev, Olena Bila, ihr Mann Ihor Kyrysh und ihr Sohn Matvyi Kyrysh haben im März vergangenen Jahres die Besetzung der Stadt Mariupol miterlebt. Sie waren anwesend, als das Theater – einer der sechs Zufluchtsorte für Zivilist*innen der Stadt – am 16. März 2022 bombardiert wurde. Momentan spielen sie nicht mehr in Mariupol, sondern im Westen der Ukraine in Uschhorod.

    In Leipzig haben sie am 13. Mai mit „Das Drama von Mariupol“ und am 14. Mai mit „Das Krippenspiel von Donezk“ zwei Gastspiele gegeben. Die Zusammenarbeit mit der Schaubühne Lindenfels und der Stadt Leipzig entstand auf Initiative einer Delegationsreise ukrainischer Frauen, die von der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wissenschaft Berlin organisiert und unter anderem durch die Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt wurde. 

    Auf der Bühne stehen fünf Stühle, darüber hängen an zwei Wäscheleinen mit Kleidern. Als das Licht ausgeht, kommen die Darsteller*innen herein – jede*r von ihnen mit einem Koffer. Sie stellen sich vor. Gespielt wird auf ukrainischer Sprache, neben der Bühne ist auf einem Bildschirm die deutsche Untertitelung mitzulesen.  

    Die Schauspieler*innen tragen Alltagskleidung – Hemden, T-Shirts, Jeans. Sie treten abwechselnd vor, erzählen von ihrer Ankunft in Mariupol, dem schmutzigen Stahlwerk oder der Wohnung, die sie in der Stadt gekauft haben, nachdem sie 20 Jahre dafür gespart hatten. Insgesamt zeichnen sie das Bild einer lebensfrohen, modernen Stadt, in der man ohne Bargeld bezahlen und mit der Tram überall hinkommen kann. Hin und wieder werden kurze Handyvideos vom Alltagsleben eingespielt. 

    Der Fokus der Erzählungen liegt jedoch auf dem März 2022, als die Stadt unter russischen Beschuss gerät und die fünf wie etwa tausend andere Menschen Zuflucht im Theater Mariupol suchen. In eindrücklichen Worten, manchmal den Tränen nahe und scheinbar kaum in der Lage, zu sprechen, schildern sie die neuen Tagesabläufe und malen eindrückliche Bilder. 

    Das sind Bilder von den Kleidern, die über ihnen hängen, weil sie überall da Zuflucht suchen, wo Platz ist – zum Beispiel im Kostümfundus. Vom Luftschutzbunker im Keller des Theaters, wo zuvor ein Café war. Davon, wie sie in völliger Dunkelheit ohne Strom und ohne Heizung daliegen, die Flugzeuge hören und vor Angst nicht einmal schreien können. Davon, wie sie die Theaterstühle verbrennen, weil es bei 10 Grad Celsius, Schnee und Matsch draußen kein trockenes Holz gibt, um den gefrorenen Fisch aufzutauen, den Soldat*innen vorbeibringen. Davon, wie sie draußen in zerstörten Geschäften nach Essen suchen und überlegen, woher man eine Tüte für das Gefundene bekommt, während direkt neben dem Theater eine Bombe einschlägt.  

    Das Publikum sitzt stumm, völlig erstarrt. Die Videos und Schilderungen erschrecken. Besonders wegen der scheinbaren Normalität, die mitten im Krieg herrscht. Da wird erst die Suppe gesalzen, bevor man wegrennt, da spielen Kinder, man hört Radio. 

    Im Radio lauscht man gemeinsam, ob sich die Hoffnung erfüllt, dass das Theater, wie zunächst gedacht, doch noch evakuiert wird. Diese wird zerschlagen. Also warten die Eingepferchten auf die Befreiung durch die ukrainische Armee. Manche verlassen mit Autos das Theater. Sie schreiben groß „дети“ („deti“, Kinder) in russischen Buchstaben an die Scheiben und hoffen auf das Beste. Auch auf den Boden vor und hinter das Theater wird in riesigen Lettern „дети“ geschrieben, um darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um ein Gebäude mit Zivilpersonen handelt.  

    Die Darsteller*innen zittern, schreien und man versteht: Das ist nicht gespielt. Das ist keine Leistung, der irgendeine Kritik oder ein Lob gerecht werden könnte. Hier erzählen Menschen kein Theaterstück, sondern etwas, was wirklich geschehen ist. Sie haben das erlebt und erleben es immer noch. So sagt es das Ensemble und so spürt man es auch im Publikum. 

    Am 16. März 2022 wird das Theater Mariupol bombardiert. Es kracht auf der Bühne, rotes Licht, die Kleider fallen, alle werfen sich nieder und schreien, so laut sie können. Nach Erzählungen der Schauspieler*innen waren noch etwa 600 Personen im Gebäude – etwa 130 überleben. Manche aus purem Glück. Dmytro berichtet, dass er zufällig im Keller war, weil er und seine Freundin Lisa gefrorenen Fisch holen wollten, obwohl sie ihn gar nicht mag.

    Das Haus brennt zwei ganze Tage lang. Das Bild mit dem qualmenden Gebäude und dem Schriftzug „дети“ davor geht um die ganze Welt. 

    Nach etwa 90 Minuten ist auf dem Bildschirm neben der Bühne zu lesen: „Das Mariupoler Theater ist zerstört, aber es ist nicht tot, es lebt weiter. Das sagen wir euch, die da waren und überlebt haben. Wir sind das Mariupoler Theater.“ Ihor Kyrysh und sein Sohn entfalten eine ukrainische Flagge, die fünf Schauspieler*innen treten geschlossen vor das Publikum – Tränen in den Augen. Auch das Publikum weint. Es erhebt sich augenblicklich, steht und applaudiert fast zehn Minuten lang.  

    An den Applaus schließt eine bedrückende Stille an. Alle sehen einander an, wissen nicht, was sie jetzt tun sollen. Weiter applaudieren? Nach Hause gehen? Als könnte man jetzt einfach heim gehen – sogar das Ein-Zuhause-Haben wirkt absurd im Angesicht dessen, was man gerade gehört und gesehen hat. Als könnten zehn Minuten Applaus ausreichen, um zu würdigen, was diese Menschen erlebt haben und heute erlebbar gemacht haben.  

    Also nur stehen, sich ansehen. Aber dann ein Ruf aus dem Publikum: „Slawa Ukrajini (Ruhm der Ukraine).“ 

     

    Foto: Laura Schenk

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