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  • Erschreckend aktuell: 100 Jahre altes Nachtclub-Theater in Leipzig uraufgeführt

    Schockierend, wie aktuell das patriarchale Machtgefälle ist, das die Beziehungen der Figuren im Theaterstück „Sex“ durchdringt. Das Schauspiel Leipzig versucht, einen Clubbesuch zu imitieren.

    Wer eine Theaterkarte zur Premiere von „Sex“ von Mae West als Ersatz für einen Besuch der Leipziger Clubszene gekauft hat, wurde am Mittwochabend, 22. Februar, enttäuscht. Die Inszenierung unter der Leitung von Johannes Preißler und Jana Riese regte zwar nicht zum Abtanzen an, dafür überzeugte sie aber mit einer abwechslungsreichen Performance.

    Acht Tage war die Filmschauspielerin und Autorin Mae West 1926 in polizeilicher Untersuchungshaft nach den ersten Aufführungen ihres Schauspiels „Sex“ in einem New Yorker Broadway Theater. „Obzön und unzüchtig“, so bewertete die amerikanische Presse das Stück. Finanziell ging Wests Drei-Akter durch die Decke. West, die damals unter dem Pseudonym Jane Mast schrieb, spielte bei den Aufführungen in New York selbst die Hauptrolle der Tänzerin und Sexarbeiterin Margy LaMont.

    Im Foyer des Leipziger Schauspiels stehen 86 Zuschauer*innen verteilt an wenigen Tischen. Durch diese Masse bewegen sich die fünf Schauspieler*innen. Die Techniker*innen haben sich hinter einem Tresen eingerichtet, der an den Tisch von Club-DJs erinnert.

    Musik spielt leise für intensive Gespräche

    Der im Programmheft versprochenen modernen Clubatmosphäre kann sich das Schauspiel trotz ausgeteilter Ohrstöpsel nur teilweise annähern. Ein Drittel des Publikums habe sich laut einer Mitarbeiterin am Einlass damit ausgestattet. Immerhin wurde eine Lautstärke von „stellenweise 95 Dezibel“ angekündigt. Da die Performance aber von intensiven Gesprächen begleitet wird, ist die Musik vermutlich heruntergedreht und instrumental.

    Eine Frau im Vordergrund ist nur von hinten zu sehen. Ein Mann mit einem Halstuch und einer Jacke schaut die Frau an. Das Bild ist in Blautönen.

    Johnny und Margy lernen sich im Club kennen.

    Margy LaMont (Ronja Rath) ist Sexarbeiterin und arbeitet sich Nacht für Nacht auf der Tanzfläche ab. Sie schaut regelmäßig auf ihr Mobiltelefon und liest Nachrichten vor, die sie ihren Unterstützern auf Only-Fans schreibt. Einer dieser Fans ist „Lonely Sailor“. Als Gregg (Laura Storz) schreibt er Margy nicht nur die meisten Nachrichten, sondern drängt sich ihr auch jeden Abend auf.

    Von vier der fünf Schauspieler*innen neben ihrer primären Rolle gespielt, gerät Manager Rocky regelmäßig in Wortgefechte mit Margy. Sie hat genug vom Club, der Stadt und allem, was dazugehört. Rocky passt das gar nicht. Ihm ist daran gelegen, dass Margy ihn nicht verlässt und über seine kriminellen Machenschaften schweigt. Die Sexarbeiterin hält ihm entgegen: „Hier ist eine Frau, die nicht auf dich hereinfällt.“

    Eine wichtige Quelle, um etwas über Margys Vergangenheit und Motive zu erfahren, sind die Gespräche mit ihrer Kollegin und Freundin Agnes (Dirk Lange). Ihr erzählt sie, was sie von Jimmy Stanton hält, dem Sohn einer wohlhabenden Familie: „Ich habe einen Jungen getroffen, der sauber ist.“

    Margy hat zwei Möglichkeiten für ein neues Leben

    Agnes rät ihr, die Beziehung, die Jimmy gerne mit Margy haben möchte, einzugehen: „Du musst dieses Leben hier hinter dir lassen.“ Margy tut sich schwer: „So tun, als ob, das kann ich nicht.“ Denn Jimmy weiß nicht, dass Margy nicht nur Besucherin des Clubs ist, in dem die beiden sich kennenlernten – sondern dort arbeitet. Hinzukommt, dass auch Seefahrer Gregg Margy ein Beziehungsangebot gemacht hat. Sie soll mit ihm nach Australien gehen. Margy hat also zwei Möglichkeiten für einen Neustart.

    Auch Agnes versucht, aus dem Club auszubrechen. Sie geht zurück zu ihren Eltern. Die ihr zwar ihren Weggang verzeihen, aber nichts von dem Beruf der Sexarbeiterin halten. So dass sich Agnes unverstanden fühlt und wieder in Rockys Etablissement zurückkehrt. Sie stellt sich vor die rote Treppe des Leipziger Schauspiels und singt Lana del Reys „Gods and Monsters“. Darin heißt es: „Im Land der Götter und Monster war ich ein Engel, der im Garten des Bösen lebte. Verkorkst, verängstigt, tat ich alles, was ich brauchte.“

    Ähnlich voyeuristisch wie die Zuschauer*innen, besucht Clara Stanton (Sonja Isemer) den Club. Die Frau eines vermögenden Geschäftsmannes genießt es, von (jüngeren) Männern wegen ihres Status begehrend angetanzt zu werden. Sie hat den Aufstieg in höhere Kreise im Gegensatz zu Margy schon hinter sich.

    Die von Autorin Mae West beschriebenen Themen scheinen auch nach fast hundert Jahren wenig an Aktualität eingebüßt zu haben: Wie weit gehen Menschen mit ihrem Körper, um gesellschaftlich aufzusteigen? Was passiert, wenn sexuelle Handlungen zu Dienstleistungen werden? Distanz und Nähe in den Tänzen zwischen Margy und ihren Verehrern, sowie die vorgelesenen Chatnachrichten, verhandeln diese Themen.

    Die Clubkulisse tut der Aufführung gut. Auch die Schauspieler*innen überzeugen in coolen, schlichten Kostümen. Es ist erschreckend, wie die immer noch aktuelle patriarchale Gewalt das szenische Projekt im Schauspiel Leipzig durchzieht.

    Die nächsten Aufführungen sind am 20. März und am 11. April, jeweils 20 Uhr im Foyer des Schauspiel Leipzig.

     

    Fotos: Susann Friedrich, Schauspiel Leipzig

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