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  • Künstlerischer Widerstand an den Rändern

    Die Ausstellung „An den Rändern: Künstlerische Morphosen“ hat die Lebenswelten von Künstler*innen erforscht.

    Ein Kosmos aus Stoffteilen, die „Spirituelle Astronautin“ und ein großer, fluider Körper, schwerelos unter Wasser. Die Weise, wie Künstler*innen Einflüsse aus ihrer Umgebung verarbeiten, führt dazu, dass persönliche und individuelle Lebenswelten entstehen. Die Ausstellung „An den Rändern: Künstlerische Morphosen“ der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) untersucht Reaktionen auf Lebensumstände und den Widerstand gegen diese. Insgesamt neun Künstler*innen und Kollektive sind Teil der wechselseitigen Begegnung. Besucher*innen sind eingeladen, diese zu erforschen und in entstandene Welten abzutauchen.

    „Künstlerische Morphosen“ werden die Dialoge zwischen Künstler*innen und ihrer Umgebung genannt. Übernommen aus der Biologie sind Morphosen „nicht erbliche Änderungen, welche Organismen durch Reize aus ihrer Umwelt erfahren“. Künstlerische Arbeit wird hier also als ein Gefüge des Reagierens und Bezugnehmens auf äußere Einflüsse verstanden. Dabei werden (queer-)feministische, intersektionale, sowie vergangenheits- und gegenwartskritische Themen „von den Rändern der Gesellschaft“ behandelt. Kunst und Gesellschaft sind mal gegenübergestellt, mal fließen sie ineinander.

    Der Altar des Kollektivs Polymora Inc. ist der Yorubà-Göttin Oshun geweiht. Er ist bedeckt mit weißen Tüchern. Auf ihm befinden sich Obst, Gemüse, mehrere Behälter mit Wasser, Fotos, Blumen und ein Bildschirm, der die Videoinstallation des Kollektivs zeigt.

    Der Altar ist der Yorubá-Göttin Oshun geweiht.

    Besonders die erstausgestellten Werke von Marie Lieb und Charlotte McGowan-Griffins filmisches Portrait über Liebs Arbeit zeigen eindrucksvoll, wie künstlerische Praxis als Mittel des Widerstands benutzt werden kann. Ende des 19. Jahrhunderts zum Versuchsobjekt mehrerer Heil- und Pflegeanstalten erklärt, fertigte Lieb in einem isolierten Umfeld mit minimalen Mitteln (zum Beispiel Stoffen, Nahrungsmitteln und Fliegen) Wand- und Bodenarbeiten an. „Sie schuf sich eine Umgebung, die ihr ein Leben in der Zelle ermöglichte“, so Ilse Lafer, Initiatorin und Leitung des Forschungsprojekts „Die Kunst der gleichberechtigten Teilhabe“, in dessen Rahmen die Ausstellung stattfand.

    Die zugehörige Videoinstallation McGowan-Griffins erforscht Liebs Lebensumstände weiter und wendet den Blick ab vom ihr auferlegten Narrativ der „hysterischen Hausfrau“. Durch eine direkte Betrachtung Liebs als Künstlerin werden Grund und Intention ihres Handelns sowie der Dialog zwischen Lieb und ihrer ausweglosen Situation hinterfragt.

    Auch Sophie Lindner, die sich in ihrer Arbeit als „Spirituelle Astronautin“ zeigt, ermöglicht die Begegnung verschiedener Umstände. Als Tochter einer Krankenpflegerin erlebte sie zur Zeit der Wende den Umbau des Gesundheitssystems und damit den Wandel der Care-Arbeit mit. „Sie geht der Frage nach, welche Bedeutung Fürsorgearbeit während der DDR-Zeit, sowie unter dem neoliberalen Wirtschaftssystem der Nachwendejahre hatte“, erklärt Lafer.

    Um Kritik an einem ausbeuterischen, männlich dominierten System zu üben, stellt Lindner sich diesem heroisch posierend gegenüber. Gleichermaßen ironisch wie auch ernsthaft als eine Astronautin im All, welches als Wettbewerbsort um scheinbar unendlichen Fortschritt und Effizienzsteigerung gilt.

    Mit der Frage „Was lässt du los?“ bittet das intersektionale Performance-Kollektiv „Polymora Inc.“ Besucher*innen, in ihre Welt einzutreten und mit dieser in Kontakt zu treten. An einem Altar des „Get Together“ wird eingeladen, eigene Botschaften in einen Behälter loszulassen. Teil der Installation ist auch eine Videoperformance, in der Polymora Inc. zu einem kollektiven, inklusiven Körper verschmilzt. Kostüme und Umgebung sind der Tierwelt des Meeres gewidmet. Beteiligte verweben ihre Körper miteinander und bewegen sich schwerelos, wie unter Wasser. Sie tragen sich gegenseitig, wirken so Handicaps unterstützend entgegen und lassen die Grenzen zwischen Körpern verschwimmen. „Wir wollen von den Meerestieren etwas über unsere Kämpfe und Visionen lernen und wie wir gemeinsam eine Atmosphäre teilen.“, schreibt das Kollektiv auf seiner Website dazu. Eine aktive, gegenwartskritische Auseinandersetzung mit darstellenden Künsten, durch die das Kollektiv alte Überzeugungen von Tanz und Theater, hin zu mehr gleichberechtigter Arbeit, verändern möchte.

    „An den Rändern: Künstlerische Morphosen“ beschäftigt sich jedoch nicht nur mit den einzelnen künstlerischen Welten an sich. Darüber hinaus werden im Rahmen der Ausstellung und des dazugehörigen Forschungsprojekts Zusammenhänge und Schnittmengen zwischen randhaften Themengebieten sicht- und spürbar gemacht. Bei der Auseinandersetzung mit den Inhalten der Ausstellung passierte es mir schnell, dass ich mein eigenes kreatives Handeln im Kontext der künstlerischen Morphose hinterfragt habe oder ich von sich plötzlich ergebenden Zusammenhängen überrascht wurde. Die Ausstellung ist ein beeindruckendes Gefüge verschiedenster Zustände und Praktiken des Widerstands, die nur darauf warten, erforscht zu werden. Werke reichen von Fotografien über Videoinstallationen, bis hin zu Holzskulpturen und einer VR-Installation, fügen sich aber wie von selbst in ein großes Ganzes ein, was das selbstständige Forschen darin so spannend macht.

    Obwohl die Ausstellung bereits beendet ist, findet ihr auf der Website des begleitenden Forschungsprojekts www.hgb-leipzig.de/andenraendern Infos zu den Inhalten, den Personen dahinter und ein Glossar, welches wichtige Begriffe erklärt und weiterführende Quellen bereitstellt.

     

    Fotos: Matteo Visentin

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