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  • Die verschiedenen Farben von Angst

    Bücher über Ängste kennen sicherlich viele. Aber eine Graphic Novel? luhze-Redakteur Leen möchte jetzt auch andere an diesem farbintensiven Abenteuer teilnehmen lassen.

    „Eine Graphic Novel? Wird wohl wie ein Manga sein. Davon habe ich schon eine Menge gelesen“, war mein erster Gedanke, als ich mir „Nowhere Girl“ von Magali el Huche vornahm. Ein Buch, das sich mit Angststörungen in der Schulzeit beschäftigt, hat direkt mein Interesse geweckt. Hätte ich so etwas gelesen, als ich in dem Alter war, hätte es mir sicherlich ein wenig geholfen.  

    Manche Seiten sind einfach nur bewundernswert. Foto: privat.

    Als es ankam, war ich erst mal überrascht von der Größe. Normalerweise lese ich Bücher, die angenehm in meine Hand passen, um sie unterwegs lesen zu können. Dafür ist diese Graphic Novel aber doch ein wenig zu groß, was mich aber nur noch gespannter werden ließ. So ließ ich mich also einfangen von Magali, die über sich selbst als Schulmädchen und ihre Erfahrungen berichtet. Es geht nicht nur um ihre Probleme mit dem Wechsel in die Mittelstufe und dem damit einhergehenden Leistungsdruck. Beleuchtet wird auch ihr teilweise ungesunder Bewältigungsmechanismus: die Beatles. Klingt erst mal verrückt, oder? Wie sollen die Beatles ihr dabei helfen, die Schule zu meistern? Jetzt denkt aber mal an eure eigene Schulzeit oder auch die Uni. Ich denke, ich spreche nicht nur von mir selbst, wenn ich sage, dass bestimmte Musiker*innen oder auch fiktive Figuren mir geholfen haben, durch meine schlimmsten Tage zu kommen. Wie an einen Rettungsring klammert sich auch unsere Protagonistin an ihre Lieblingsband, die sie durch ihre große Schwester kennengelernt hat. Auch wenn mir der einzigartige Zeichenstil schon gefallen hat, hat mich die Farbgestaltung regelrecht umgehauen. Es ist zwar allgemein bekannt, dass Farben viele Emotionen ausdrücken können, doch noch nie habe ich das so schön zum Einsatz kommen sehen. Viele schlechte Momente für Magali werden eher farblos gehalten, es wird viel Schrift reingequetscht, was mich als Lesender sogar bedrückt. Sobald die Beatles aber aufs Feld kommen, gibt es einen Ansturm an Farben, die sich alle miteinander mischen, aber doch für sich bleiben. Eine wunderschöne Harmonie für das betrachtende Auge. Ich konnte diese Stellen sehr gut auf meine eigenen Erfahrungen übertragen, auf etwas, was mich persönlich durch harte Zeiten gebracht hat und es immer noch tut. In meinem Fall der Anime „One Piece“, welcher sicherlich fast allen etwas sagt. Eine schlechte Note? Die Lehrerin war unzufrieden mit meiner Werkarbeit? Alle anderen machen zusammen etwas in der Pause und ich habe keine Ahnung, wieso ich nicht einbezogen werde? Einfach meine Kopfhörer rein und den Soundtrack von One Piece hören. So musste ich nicht mal zu Hause sitzen und die Serie schauen. Auch so gelang mir die Flucht in eine schönere Wirklichkeit. Ähnlich geht Magali damit um. Ihre Liebe zu den Beatles bleibt auf keinem gesunden Level, sondern steigert sich soweit in Obsession, mit der sie immer vor der Realität flüchtet, wenn die negativen Gefühle und Gedanken wieder überwiegen.  

    Auch die Rolle der Schwester finde ich in der Graphic Novel unentbehrlich und sehr authentisch vermittelt. Ich habe ebenfalls einen großen Bruder, der sich mir gegenüber zu dieser Zeit in meinem Leben ähnlich verhalten hat. Die große Schwester kann anfangs nichts anfangen mit dem seltsamen Verhalten von Magali, sie versteht die Ernsthaftigkeit dahinter nicht und ist selbst natürlich „zu cool“, um sich weiter damit zu beschäftigen. Einfach nur typischer Kram der „kleinen emotionalen Kinder“. Dass Geschwister aber auch eine riesige Stütze sein können, wird in dem Buch zunehmend klar. Je offensichtlicher Magalis Problem wird, desto besorgter wird ihre Schwester, auch wenn sie es nicht allzu sehr zugeben will. An einigen Stellen bemerken die Lesenden, dass die beiden Geschwister ein liebevolles Band verbindet.  

    Das Cover von Nowhere Girl. Foto: privat.

    Es gibt eine Szene, die mir am meisten im Gedächtnis geblieben ist. Eines Nachts flüstert Magali ihrer Schwester zu, dass sie nicht einschlafen kann, wahrscheinlich weil sie wieder allerlei Ängste und Gedanken plagen. Diese bietet ihr daraufhin an, zu ihr ins Bett schlafen zu kommen, was Magali freudig annimmt. Sie sprechen nicht weiter oder interagieren auf sonstige Weise. Sie schlafen einfach nebeneinander ein, was eine so simple, aber so hilfreiche Sache sein kann. In dem Fall habe ich mich in Magali’s großer Schwester wiedererkannt, da ich auch noch einen kleinen Bruder habe, der unzählige Male nachts an meinem Bett stand mit seinem Kissen und seiner Decke und mich gefragt hat, ob er bei mir schlafen kann. Natürlich war ich manchmal genervt, besonders wenn ich gerade einen besonders schönen Traum hatte oder wusste, dass ich an diesem Morgen einen wichtigen Test hatte. Trotzdem habe ich mich immer sehr gefreut, dass er mir so sehr vertraut und sich bei mir so sicher fühlt, dass er zu mir kommt. Er hätte ja auch unseren anderen Bruder oder meine Eltern fragen können. In meinem Fall aber hat mein kleiner Bruder noch stundenlang Geschichten erzählt, bis er sich selbst damit ermüdet hat…

    Ich finde also, dass mit dieser Szene schön gezeigt wurde, wie sehr auch kleine Dinge Leuten helfen können, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Natürlich ersetzt es keine professionelle Hilfe, aber ohne ein freundschaftliches oder familiäres Umfeld, das Unterstützung anbietet, ist es vermutlich noch schwieriger.  

    Neben ihrer Schulphobie hat Magali auch ihre damit verbundene Scham einbezogen, was mir wieder sehr ans Herz gegangen ist. Abzuweichen von der Norm, bestimmte Anpassungen vornehmen zu müssen wegen der persönlichen Umstände, sind auf jeden Fall Dinge, die sehr unangenehm sein können. Besonders wenn viele Leute im eigenen Umfeld, die Klassenmitglieder zum Beispiel, kein Verständnis dafür haben, komische Blicke austauschen und sich dann langsam abwenden. Aus diesem Grund finde ich es auch toll, dass diese Graphic Novel die Probleme eines Schulmädchens in seiner Pubertät porträtiert. Es ist geeignet für Kinder in diesem Alter und könnte so vielleicht jüngere Menschen aufklären über Ängste und allgemein psychische Probleme. Kinder sollten mindestens genau so viel über psychische wie physische Krankheiten erfahren, damit immer weniger Menschen sich dafür schämen müssen. 

    Durch die Graphic Novel lässt sich fliegen, aber sie hat trotzdem eine Menge Inhalt, was mich positiv überrascht hat. Ich kann es allen, auch denen, die nicht mit solchen Themen zu kämpfen haben, nur ans Herz legen.  

    Also falls es sich jemand ausleihen will… 

     

    Grafik: Sara Wolkers

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