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  • Klebriger Untergang

    Die Letzte Generation blockiert Straßen im Kampf gegen den Klimawandel.

    Ein lauer Morgen am ersten Dienstag im Juni, 7:30 Uhr: Eine kleine Gruppe von zwölf schwarz gekleideten Personen macht sich auf den Weg über die Brandenburger Brücke, dahinter halb so viele Journalist*innen, bereit, mit Kameras und Mikros das, was nun folgen wird, zu dokumentieren. Neben dem Gehweg schiebt sich Auto um Auto durch den morgendlichen Verkehr. Die Fußgänger*innenampel an der Kreuzung Rackwitzer und Bran­denburger Straße schaltet auf Grün – Startschuss für die Blockadeaktion der Klimabewegung Auf­­stand der Letzten Generation. Im Gehen kramen sie orangene Warnwesten und rote Banner mit einer durchgestrichenen Flamme und den Schriftzügen „Letzte Generation“ und „Stoppt den fossilen Wahnsinn“ aus ihren Rucksäcken. Damit beziehen sie sich auf eine Rede von António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er sagt: „Das Investieren in fossile Infrastruk­turen ist moralischer und ökonomi­scher Wahnsinn.“ Be­­wusst trägt die Gruppe diesmal schwarz, um sich mit dem Aktivisten vom Katholikentag zu solidarisieren. Bis sie ausgepackt haben, hat die Ampel bereits umgeschaltet und die ersten Autofahrer*innen beginnen zu hupen. Die Ein- und Ausfallstraße, der Weg, um aus dem Leipziger Norden ins Zentrum zu kommen, ist in beide Richtungen durch jeweils vier Personen versperrt. Als ein Aktivist, der von außen den Verkehr beobachtet und in einem Live-Ticker den Verlauf der Aktion dokumentiert, weitergibt, dass auch ein Polizei-Sechser im Stau stehe, setzt sich die erste Aktivistin hin und macht sich bereit, eine ihrer Hände mit Sekundenkleber auf die Straße zu heften. Spätestens jetzt wird den motorisierten Verkehrsteilnehmer*innen endgü­­l­tig klar: Hier geht es nicht mehr voran.

    Angst

    Seit Anfang dieses Jahres blockiert die Letzte Generation bundesweit Verkehrsknotenpunk­­te und Auto­bahnen mittels Sitzprotesten. In weiteren Aktionen drehten sie Häh­ne von Gaspipelines über­all in Deutschland ab und plakatierten Banken. Sie selbst sehen sich als erste Generation, die die Folgen des Klimawandels spüren wird und zeitgleich die letzte, die noch etwas bewegen kann. Und sie alle berufen sich auf ein Gefühl:
    „Ich sitze hier, weil ich Angst habe. Ich habe Angst um meine Zukunft!“, erklärt sich Lina Schin­­köthe gegenüber einer Autofahrerin. Sie sitzt direkt vor einem LKW, der meterhoch über sie ragt und durch den laufenden Motor die Umgebungsluft mit Wärme und Abgasen sättigt. Seine Hupe donnert über den gesamten Platz, sodass die For­derungen und Recht­fertigungen der Aktivist*innen an manchen Stellen kaum hörbar sind. Schinköthe hat mittellange brau­ne Haare, unter ihrer Weste trägt sie ihren Rucksack. Sie studiert im zweiten Semester Philosophie und ist eine der Spre­cherinnen der Leipziger Orts­gruppe. „Ich hatte sehr lange das Gefühl, dass etwas schief geht, und dass das, was wir machen, nicht ausreicht.“ Bis zu dem Vortrag der Letzten Generation, zu dem sie Ende Februar ging, sei sie noch nie klimaaktivistisch tätig gewesen, erzählt Schinköthe in einem Gespräch am Uni-Campus. Hier sei sie auf Menschen getroffen, denen der Ernst der Lage so bewusst war wie ihr, und die genauso fühlten wie sie. Weiter sagt sie: „Mich hat total überzeugt, dass es einen Plan gibt, wie man gesellschaftlichen Wandel anstoßen kann.“
    Der Plan? So viel Druck auf die Regierung aufzubauen, bis sie den Forderungen der Gruppe nachkommt. Man kreiere einen gesellschaftlichen Raum, eine Span­nung, in der sich alle positionieren müssten. „Entweder bin ich für den fossilen Wahnsinn oder nicht. Entweder bin ich für neue fossile Infrastrukturen wie Ölbohrungen in der Nordsee oder nicht “, sagt Lina. In ihrer Wortwahl spiegeln sich die vielen Vorträge wider, die sie mittlerweile selbst Interessierten gibt. Sie führt fort, dass es die Diskussionen brauche, unabhängig davon, ob sie am Küchentisch, in der Kantine oder in Talkshows stattfinde und unabhängig davon, ob man die Aktionsform, also die Verkehrs­blockaden, gut finde.

    Frust und Wut

    Die blockierten Autofahrer*innen finden sie nicht gut. Immer mehr steigen aus. Einige rufen von ihren Autotüren den Aktivist*innen Drohungen und Beleidigungen zu: „Jungs, das gibt ‘ne Anzeige, wisst ihr!“, „Als ob ihr nichts Besseres zu tun habt!“ und „Macht euch vom Acker, ihr Idioten!“. Im Vorbeifahren reißt ein Fahrradfahrer zwei Protestierenden das Banner aus den Händen. Andere gehen auf sie zu, fragen, was das soll. Fast wie ein Mantra erklären die Aktivist*innen immer wieder ihre Beweggründe. Es müs­­se jetzt etwas passieren, man müsse in einen Notfall­modus, eine Notfallwirtschaft gehen. Ihre zentrale Forderung: Robert Habeck, der Bundeswirtschafts- und Klimaminister, solle eine Lebenserklärung abgeben und sich damit gegen neue fossile Quellen aussprechen.
    Viele der Blockierten interessiert das aber nur am Rande. Sie müssten weiter, sie hätten Angst, auf der Arbeit Probleme zu bekommen. Ein Arzt erklärt, dass Patient*innen in seiner Praxis auf eine Behandlung warten würden. Das Anliegen der Letzten Generation sei ja prinzipiell richtig, heißt es hier aus verschiedenen Richtungen, aber nicht so.
    Anders sieht das Holger Klemens. Er ist auf dem Weg nach Krostitz zur Arbeit und steht mit seinem Auto in der ersten Reihe. „Ich finde das gut“, meint er, „Die Politik redet viel, hält ihre Versprechen nicht ein und es ist für vieles schon Fünf nach Zwölf. Da ist die Aktion total ok.“

    Ungehorsam

    Das Aktionsbündnis weiß, dass es sich nicht beliebt macht. Man verweist auf Martin Luther King und die Freedom Riders, auf die Frauenbewegung, auf den Salzmarsch von Ghandi. Auch diese Aktivist*innen waren zu ihren Lebzeiten nicht beliebt. Auch sie haben Spannungen erzeugt, das sei die Grundlage des zivilen Ungehorsams. Ein Versuch für eine Definition könnte lauten: Ziviler Ungehorsam umfasst, dass eine bewusste, öffentliche, symbolische Regel­ver­let­zung begangen wird, um gegen Unge­rechtigkeiten oder unethische Gesetze gewaltfrei vorzugehen, bereit, die Konsequenzen zu tragen und damit dennoch den Rechtsstaat anzuerkennen.
    Über die Rechtmäßigkeit, Le­galität und Zugehörigkeit des zivilen Ungehorsams zur Demokratie streiten sich sozio­lo­gisch-politische, philosophische und juristische Expert­*innen. Die Auslegung von Ge­waltfreiheit un­terscheidet sich massiv in den Disziplinen und ist grundlegend für die Bewertung von Nötigung und Verhältnismäßigkeit der Aktionen.
    Die Letzte Generation sieht in ihren Handlungen den letzten Weg, die Politik dazu zu bringen, ernsthaft die Krise zu verhandeln. Alles andere wäre bereits gescheitert. „Wir haben Petitionen geschrieben, wir haben demon­striert, wir haben Kunst­projekte gemacht, was wir parallel auch immer noch brauchen, aber es reicht nicht aus“, sagt Schinköthe und lacht stumpf auf. Die Menschen zu stören, sei schwer zu ertragen, aber noch schwerer sei es, der „fossilen Fahrt in unsere Vernichtung“ zuzuschauen. Die expliziten Forderungen der Letzten Generation zum Klimaschutz dür­­ften nicht mehr ignorierbar bleiben.
    Grundsätzlich seien Sitzblockaden ein gängiges Mittel für zivilen Ungehorsam, stellt Protestforscherin Lena Herbers klar. Sie promoviert zu dem Thema und sagt: „Die Letze Generation schafft große mediale Aufmerksamkeit und starke Bilder. Dass man mit radikaleren Protestformen wie zivilem Ungehorsam nicht alle erreichen und überzeugen kann, ist klar. Was aber häufig gelingt, ist, dass Themen in die öffentliche Debatte getragen werden.“ Sie sähe, dass das Thema Lebensmittelverschwendung, das vor dem russischen Angriff auf die Ukraine zentrales Thema der Gruppe war, zu Beginn des Jahres stärker medial be­sprochen wurde. Auch auf der Brandenburger Brücke mangelt es an Vertreter*innen der Presse nicht.

    Erlösung

    Mittlerweile haben drei Großraum- und mehrere Streifenwagen mit Blaulicht und Sirene die Protestaktion erreicht. Viele Autofahrer*innen steigen wieder ein. „Die Anwesenheit der Polizei wirkt meist deeskalierend“, sagt Pressesprecherin Lilly Schu­­­bert. Sie bewertet diese Blockade als vergleichsweise ruhig: „Viel hängt von der ersten Reihe ab. Bildet sich in dieser ein Mob, dann wird es gefährlich.“ An diesem Tag wurde niemand körperlich.
    In ruhigem Ton bittet die Polizei die Aktivist*innen, die Straße zu verlassen. Zudem werden sie aufgefordert, selbstständig zu ver­suchen, ihre Hand zu heben, um so festzustellen, wer angeklebt ist. Bei vier der acht Aktivist*innen bleibt sie bewegungs­los auf dem Asphalt. Auf einigen Armen steht in dicken schwarzen Zahlen die Nummer des Rechts- Teams. Eigene Handys seien in der Vergangenheit schon häufiger abge­nom­­men worden. Die anderen vier werden, nachdem sie nicht freiwillig die Straße verlassen, von Polizist*innen unter den Achseln und an den Füßen gegriffen, und davongetragen. Nach der dreiviertelstündigen Störung kann der Verkehr umgeleitet werden. Die Festgeklebten werden mit Pflanzenöl, Spritze und Wattetupfern Stück für Stück von der Straße gelöst. Eine Viertelstunde nach neun ist die Straße frei.
    Möglicherweise müssen die Blockierer*innen nun mit rechtlichen Folgen rechnen. Nötigung könn­te der Tatvorwurf lauten, denn infolge der sogenannten „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“, die das Bundesverfassungsgericht 2011 bestätigte, üben die Aktivist*innen auch durch eine friedliche Sitzblockade Gewalt aus, da sie durch die Fahrzeuge, die in der ersten Reihe stehen bleiben müssen, ein unüber­windbares Hindernis und somit einen phy­sischen Zwang für alle Da­hin­terstehenden schaf­­­­­fen. Diese Rechtssprechung ist jedoch mit Verweis auf die Versamm­lungs­freiheit umstritten und es kommt auf den Einzelfall an.
    Bis die Aktivist*innen eventuelle Konsequenzen erfahren, könnte es noch einige Monate und Jahre dauern. Und sie machen weiter, trotz der Gefahr, dafür in Gewahrsam zu kommen, hohe Geldstrafen zahlen oder eine Frei­heit­sstrafe absitzen zu müssen. „Da wird deutlich, dass es ein verzweifelter Akt ist. Warum sonst würden Leute das machen, diese vollkommen hirn­rissig schei­­­­­­nende Handlung, sich vor Autos zu setzen und alle dabei so massiv abzufucken“, schließt Elena Zorr. Sie hat sich an dem Dienstag als Erste auf die Straße geklebt.

     

    Foto: Adefunmi Olanigan

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