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  • Eingesessene Schreibtischarbeiter

    Mitte Mai wagte Kolumnist Martin einen Ausflug in ungewohnte Gefilde: In der sächsischen Hauptstadt kam er der Landespolitik näher, als er gedacht hätte. Ein Tag, der zum Nachdenken anregt.

    Alles beginnt mit dem Treffpunkt im Hauptbahnhof kurz vor 8 Uhr. Eine unmöglich frühe Zeit um nach Dresden zum Jugendpressetag zu fahren, sind meine luhze-Kollegin und ich uns einig. Dann gleich die erste Überraschung: Die anderen Nachwuchs-Schreiberlinge sind deutlich jünger als erwartet. Wir erhöhen den Altersdurchschnitt von schätzungsweise 14 auf 20 Jahre. Im Regionalzug fühlen wir uns wieder wie in der Unterstufe. Die Gespräche drehen sich um für uns inzwischen belanglose Dinge wie unzuverlässiges Pausenklingeln im baufälligen Schulhaus. Kurz darauf steht das Thema des Tages fest: Ein eifriger Kontrolleur der Deutschen Bahn, über den sich die restliche Gruppe stundenlang empören kann. Und ich mittendrin, genervt von so viel Banalem, das nichts mit meiner Lebensrealität zu tun hat. Insgeheim wünsche ich mir, ich hätte genauso wenige Erwachsenenprobleme wie damals und könnte diesen Tag so auch besser genießen.

    Im Landtag begrüßt uns als erstes der Vorsitzende der Landespressekonferenz Sachsen. Wir sind erleichtert zu hören, dass auch er erst über Umwege zum Journalismus gefunden hat. Dann die erste Fragerunde: Gibt es im politischen Dresden jeden Tag eine so bedeutende Neuigkeit, dass sie einen Artikel in der Lokalpresse wert ist? Ja, meint er lachend. Und wenn nicht: Als Korrespondent musst du immer ein Thema finden. Da ist er wieder, der Druck.

    Martin Schroeder sitzt auf einem Stuhl vor einer Glasfassade, dahinter sind grüne Pflanzen. Er schaut an der Kamera rechts vorbei.

    Ein Besuch im Landtag lässt Martin Vieles hinterfragen.

    Später dürfen wir selbst im Plenarsaal Platz nehmen, für eine Stunde Abgeordneter sein. Ich erwische den Stuhl der Grünen-Abgeordneten Christin Melcher. Ein Blick auf den Sitzplan der Parlamentarier holt uns in die Wirklichkeit des Jahres 2022 zurück: Hier kommen fast genauso viele Stimmen auf die AfD wie auf die regierungsführende CDU. Bei dem Gedanken daran, was das für Sachsens Politik bedeuten muss, schüttelt es mich.

    Wir proben parlamentarische Diskussion und Hammelsprung. Jüngere Teilnehmende finden es anstrengend, für eine genaue Auszählung extra aufzustehen – ich dagegen als eingesessener Schreibtischarbeiter bin dankbar für jede Bewegungsmöglichkeit. Unser 25-köpfiges Testparlament hat gesprochen: Die Benotung in den Fächern Sport, Kunst und Musik soll abgeschafft werden – ein Lichtblick.

    Die Mittagspause verbringen wir im wunderbar ruhigen Innenhof des Landtags. Dafür lässt das Kantinenessen zu wünschen übrig. Kein Kind oder Vegetarier scheint besonders begeistert von Kartoffeln mit Kräuterquark zu sein. Wir sehnen uns nach der luxuriösen Leipziger Mensa am Park mit ihrer im Vergleich überfordernden Auswahl an veganen Gerichten. Ich werde trotzdem satt und erträume mir einen entspannten Mittagsschlaf im Dresdner Grün. Stattdessen folgt jetzt der interessanteste Teil des Tages. Wir stellen Abgeordneten von SPD, Grünen, Linken und CDU unsere Fragen. Vorbereitungszeit: 13 Minuten. In dieser Zeit kann ich unmöglich meinem eigenen Rechercheanspruch gerecht werden. Ich durchforste mein Hirn und das Internet nach großen Themen, die topaktuell sind und zu den Schwerpunkten der Politiker*innen passen. Meine Gedanken kreisen um die Integration ukrainischer Flüchtlingskinder und die Rückzahlungsfrist für staatliche Coronaschulden. Doch dazu werde ich keine Antworten bekommen. Allein die simpel formulierten Fragen der neben mir sitzenden Zwölfjährigen reichen aus, um die knapp bemessene Stunde zu füllen.

    Eine davon lautet: „Finden Sie das sächsische Bildungssystem veraltet?“ Was ich heute Morgen noch als banal abtat, brennt auch den Politiker*innen unter den Nägeln. Grüne, SPD und Linke wünschen sich einstimmig große Reformen. Schule müsse die Heranwachsenden besser auf die realen Herausforderungen des Lebens vorbereiten, fordern sie. Ich fühle mich angesprochen und merke, dass meine Probleme gar nicht so weit entfernt sind von denen der Jüngeren. Als ich diese Zeilen am Nachmittag im sonnigen Alaunpark schreibe, bin ich dankbar für diese Erkenntnis. Nach der Rückfahrt erwartet uns Leipzig in der Abendsonne – und mein Alltag mit der nächsten Redaktionssitzung.

    Foto: Oliver Killig / SLT; Adefunmi Olanigan

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