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  • „Heruntergekürzt und tausendmal verschoben“

    Ronya Othmann spricht mit luhze Redakteurin Michelle Schreiber über den Entstehungsprozess ihres Gedichtbands „die verbrechen“, der Folter und Flucht thematisiert, aber auch die Migration von Pflanzen

    Die Schauplätze der Gedichte sind weit gefasst, sie spielen in Kurdistan oder in Deutschland. Die Verbrechen bezeichnen: Flucht und Migration aufgrund von Vertreibung; Folter und Mord, insbesondere den Völkermord an den Ezîd*innen durch den sogenannten Islamischen Staat. Sie sind eine Beschäftigung mit dem was bleibt: Was lässt man zurück an den Orten, von denen man vertrieben wird; den Hof, die Hühner, den bellenden Hund. Was bleibt in einem selbst zurück; die Bilder, die Geschichten, die Erinnerung an Gewalt, die Angst im Alltag.

    luhze: Du schreibst Prosa, Lyrik, journalistische Texte. Warum hast du dich diesmal für die Lyrik entschieden?
    Othmann: Ich hatte das Gefühl, dass es Sachen gibt, die ich nicht in Kolumnen und nicht im Roman sagen kann, weil man dafür eine andere Sprache braucht. Ich wollte unbedingt einen Gedichtband, den man wie einen Roman oder einen Erzählband lesen kann, der nicht eine zufällige Sammlung von allem ist, was ich habe. Meistens schreibe ich eine Zeit lang nur Lyrik und dann arbeite ich wieder nur an einem Roman. Währenddessen sammelt sich aber etwas in meinem Hinterkopf und in Dateien an.

    Wie entsteht deine Lyrik?
    Pro Gedicht habe ich ein Dokument von fünfzehn, dreißig Seiten mit Notizen. Das sind erstmal irgendwelche Gedanken dazu, bis sie zu einem Gedicht werden: Heruntergekürzt und tausendmal verschoben. Das ist wie ein Bodensatz, der am Ende nach ganz viel Recherche übrigbleibt. Es geht immer um konkrete Sachen, aber ich wollte kein Glossar am Ende des Gedichtbands, über das man sich die Anspielungen erschließen kann, weil ich denke, dass man die Gedichte auch auf eine ganz andere Weise verstehen kann.

    Ronya Othmann steht auf einer Wiese in einem großen braunen Anzug.

    Ronya Othmann wurde 1993 als Tochter eines jesidischen Vaters und einer deutschen Mutter in München geboren. Sie studiert am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2020 veröffentliche sie ihren preisgekrönten Debütroman „Die Sommer“, zuletzt erschien ihr Gedichtband „die verbrechen“ 2021 im Hanser Verlag.

    Dein Gedichtband trägt den Namen „die verbrechen“. Zu welchen Themen hast du besonders recherchiert?
    In den Gedichten beschäftige ich mich viel mit den Verbrechen an den Menschen. Ganz konkret: der Genozid an den Ezîd*innen verübt durch den sogenannten Islamischen Staat 2014, die vorausgehenden Massaker an den Ezîd*innen in den letzten Jahrhunderten, die Zerstörung der archäologischen Stätten wie Palmyra oder der archäologischen Artefakte im Museum Mossul durch den IS, der Einmarsch des Türkischen Militärs in Afrîn 2018. Die Verbrechen des Assad-Regimes, die Antikurdischen Repressionen in Türkei, Syrien, Irak und Iran.

    Es sind also Verbrechen in einem juristischen Sinne und mit einer politischen Dimension, die mich persönlich sehr beschäftigen, weil sie auch einen Teil meiner Familie betreffen. Recherchiert habe ich in der kurdischen Autonomieregion im Irak, vor ein paar Jahren auch noch in Kurdistan und der Türkei, in Büchern, Gesprächen, Videos, Fotos. Ich habe nicht nach diesen Themen gesucht, sie waren sowieso die ganze Zeit in meinem Kopf.

    Oft erwähnst du Pflanzen in deinen Gedichten, wie hängen sie mit Migration zusammen?
    Die Pflanzen, die in den Gedichten erwähnt werden, sind nicht dort, wo sie sich geographisch eigentlich befinden sollten, weil viele Pflanzen migrieren. Man sagt oft, dass die Heimat und der Ort, an dem man ein neues Leben anfängt, wie zwei Welten sind, aber irgendwie sind Migration und Flucht so.

    Man nimmt etwas in das neue Leben mit.
    Voll! In der Migration nimmt man manchmal auch Pflanzen mit, in meiner Familie zum Beispiel hat man Samen von einer speziellen Gurke mitgenommen (lacht). Das war auch spannend zu den Pflanzen zu recherchieren. Von Rosa Luxemburg gibt es ein Herbarium. Luxemburg war Botanikerin und hat viel über Pflanzen geschrieben. Sie hat im Gefängnis auch noch Pflanzen gesammelt, gepresst und kategorisiert.

    Welche Geschichte erzählt das Coverbild?
    Das sind Melonen! Man kann es nicht so genau erkennen, das Foto wurde stark vergrößert. Bei meiner Oma im Dorf in Syrien hatten sie Massen an Melonen. Es wurde nur der innerste Kern gegessen, den Rest haben die Tiere bekommen, weil es so einen Überfluss gab. Das ist auch ein Ding, worüber in meiner Familie alle reden: „Ach, die Melonen schmecken nicht in Deutschland“. Ständig wird über sie gesprochen. Auch die Melone wird exportiert und migriert.

    Du schreibst Verse wie „du trägst das gewicht deines zopfes im / nacken“ und „in einem anderen leben hängt dein / zopf auf einer leine wie ein stück wäsche / über dem grab deines bruders“. Das Motiv der Zöpfe kommt mehrmals vor, was bedeuten sie?
    In der jesidischen Kultur ist es so, dass man die Haare, auch bei Jungen, erst ab einem bestimmten Alter geschnitten hat und alle ganz lange Zöpfe trugen, die geflochten waren, weil das vor Krankheiten schützt – zumindest hat man das so gesagt. Das erste
    Mal Haareschneiden war etwas Besonderes, eine Form von Taufe, das musste ein Geistlicher machen.
    Bei Frauen sind lange Haare das Schönheitsideal. Wenn Ezîd*innen sehr trauern, schneiden sie sich die Haare. Als ich im Irak war, bin ich Menschen begegnet, deren Angehörige vom IS getötet oder ganz tragisch gestorben sind. Dann hingen über den Gräbern Wäscheleinen und die weiblichen Familienmitglieder haben sich alle die Zöpfe abgeschnitten und die hingen darüber aus Trauer.

    Fotos: Cihan Cakmak

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