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  • Der Gepeinigte

    „Lieber Thomas“ will dem Schriftsteller Thomas Brasch ein Denkmal setzen. Wirklich interessant ist aber vor allem das Drumherum.

    Ein gepeinigter Künstler sitzt an einer New Yorker Bar, neben ihm ein Verleger mit Scheckbuch in der Hand. Der Verleger will den gepeinigten Künstler dazu bringen, sein eigenes Leben – Dissident, Jude, Ministersohn – in einen Roman zu fassen. Der Gepeinigte windet sich: „Ich bin keine Erfindung, ich bin Erfinder“, sagt er.

    An diesem Maßstab muss sich der Film „Lieber Thomas“ über den Schriftsteller Thomas Brasch messen lassen, und Regisseur Andreas Kleinert schafft das mit Bravour. Brasch wirkt nicht wie eine Erfindung, sondern wie ein echter, leidender Mensch. Nur leider ist das Interessante an Brasch gar nicht er selbst und sein Leiden, sondern das, was ihn umgibt: Ostberlin und seine Künstler*innenszene der 1960er Jahre, die sich ebenso besäuft, betrügt und inspiriert, wie es ihre Pendants in Paris, New York und Beirut taten. Nur hier eben in der Diktatur. Das sanfte Schwarz-Weiß, in dem der Film gedreht ist, und das mir immer wieder Farbe unterjubeln zu wollen schien, passt dazu hervorragend. Es vermittelt die Tristesse der DDR, ohne sie zer- und verfallen zu lassen.

    Thomas Braschs Vater schaut ihn wütend von unten an, Brasch schaut weg.

    Braschs Vater ist überzeugter SED-Funktionär und ständiger Fixpunkt für Braschs Wut.

    Thomas Brasch (Albrecht Schuch) wurde 1945 als Sohn jüdischer Emigranten in England geboren, sein Vater wurde ein wichtiger SED-Funktionär. Brasch rutschte dann recht schnell in die Ostberliner Künstler*innenszene. Weil er Flugblätter verteilte, während in Prag der Frühling von Panzern überrollt wurde, kam er zuerst ins Gefängnis und dann – dank Intervention des Vaters – auf Bewährung in einen Betrieb, in dem wir das einzige Mal aus der Künstler*innenblase herausgeführt werden. Wir dürfen uns kurz umschauen, die verhärmten Gesichter der Alkoholiker*innen an den Maschinen betrachten, und dann rasch wieder in unseren langsam zerfallenden Ostberliner Altbau zurückkehren. Weil er in der DDR nicht veröffentlichen darf, wandert Brasch 1976 in den Westen aus, wo er natürlich berühmt wird. Erst hier verliert der zweieinhalb Stunden lange Film an Tempo und Brasch an Sogkraft. Ohne seine unmittelbar präsenten Gegner, namentlich Vater und Staat, kämpft er für den Rest des Films vor allem mit sich selbst. Und natürlich entwickelt Brasch prompt eine Kokainsucht. Das war damals für den gepeinigten Künstler schon nicht ungewöhnlich, und heute langweilt es nur noch mehr.

    Brasch stützt sich nackt auf, vor ihm liegt eine Frau, deren Körper mit Edding beschrieben ist.

    Brasch schreibt in kurzen Szenen immer wieder auf Frauenkörpern; als er auswandert, beginnt er, auf Spiegel zu schreiben – immer auf dem, was er ausbeutet.

    Wer es mag, wie ein männliches Genie schäbig mit anderen und noch schlechter mit sich selbst umgeht, von Selbstzweifeln geplagt imaginäre Kämpfe mit dem eigenen Vater führt und ganz allgemein alle Klischees des geplagten Geistes erfüllt, wird im zweiten Teil des Films auf seine Kosten kommen. Sehenswert finde ich „Lieber Thomas“ aber, weil Kleinert ganz unverblümt den Blick darauf richtet, wie eng die DDR gewesen sein muss. „Lieber Thomas“ vermittelt das Gefühl der Eingezwängtheit, wenn man sich von der Stasi überwacht wähnte: das Misstrauen gegenüber der Freundin des Bruders, viel zu laute Musik bei Gesprächen, die niemand mithören sollte, und die beiden Herren vor der Haustür, die es sich in ihrem Lada bequem gemacht haben. Trotzdem verweigert sich Brasch, einmal im Westen, vehement der Vereinnahmung als Dissident, Flüchtling, Überlebender. Bis zum Veröffentlichungsverbot verurteilt er jene scharf, die in den Westen wollen; er glaubt daran, den Staat von innen verbessern zu können. Und es macht Spaß, ihn darüber mit seinem selbstzufriedenen Vater streiten zu sehen. Immerhin ist Brasch Dichter, seine Schlagfertigkeit verleiht so manch potenziell ödem Dialog eine Schärfe, die mich aus dem Fläzen im Kinosessel aufgerichtet hat.

    Brasch sitzt auf der Lehne eines Stuhls vor einem Tisch; hinter ihm leuchtet der Neonschriftzug „Brasch“.

    Dass Brasch ein Querulant ist, reibt der Film den Zuschauenden häufig unter die Nase.

    Den Bechdel-Test besteht „Lieber Thomas“ übrigens nicht. Wer geneigt ist, könnte ihm das deswegen verzeihen, weil sich überhaupt nie jemand mit irgendwem außer Brasch unterhält. Kleinert liebt Brasch offensichtlich und wollte ihm ein Denkmal setzen – als Erfinder, nicht Erfindung. Dabei schafft er es beeindruckenderweise, den Film nicht wie eine Liebeserklärung wirken zu lassen. Nur zum Ende verliert sich „Lieber Thomas“ in den Kitschschwaden, die er vorher umschifft hat. Zum Glück hatte er da keine Zeit mehr, vollends auf Grund zu laufen.

    Fotos: Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Peter Hartwig)

    In den Kinos ab 11. November 2021

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