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  • „Es geht mir um das Eintauchen“

    Anna-Sophie Mahler ist ab der Spielzeit 2021/22 neue Hausregisseurin des Schauspiels Leipzig. Im Interview spricht sie über neue Formen der Darstellung, Durchsetzungsvermögen und Wut.

    Das Schauspiel Leipzig hat ab der Spielzeit 2021/22 eine neue Hausregisseurin: Anna-Sophie Mahler. Seit ihrem Regiestu­dium in Berlin hat sie an zahl­reichen Theatern und Opern­häusern aufgeführt. Mit „La Bohème“ inszeniert sie nun schon zum zweiten Mal in Leip­­­zig. luhze-Autorin Han­nah Arnim hat mit ihr über ihre Pläne in Leipzig, radikale Künst­ler*innen und die Dring­lichkeit von Theater gesprochen.

    luhze: Frau Mahler, sind Sie wütend?

    Mahler: Grundsätzlich bin ich ein sehr dem Leben zugewand­ter Mensch. Im Theater geht es mir darum, tiefere Zusammen­hänge zu erforschen und vielleicht sogar eine Schönheit des Lebens zu zeigen, die al­lerdings immer mit einer ge­wissen Melancholie oder Trau­rig­keit verbunden ist.
    Es zieht sich durch meine Inszenierungen, dass ich sehr damit hadere, was wir als Men­schen auf dem Pla­ne­ten anrichten.
    Und dass ich gegenüber dem Menschen, der soviel Zer­stö­rung hinterlässt, eine sehr pessimistische Sichtweise habe. Das könnte man als eine Art Wut bezeichnen. Aber vielleicht ist Melancholie das richtigere Wort.

    Sollten Regisseur*innen wütend sein?

    Das würde ich so in dem Sinne nicht sagen. Man muss ein Anliegen haben und versuchen, für das zu kämpfen, was einem wichtig ist. Als Regisseurin ist es toll, mit allen Mitteln, die einem das Theater oder die Oper zur Verfügung stellen, seine Sicht­weise der Dinge künstle­risch umzusetzen. Wut ist da aller­dings nicht mein Motor. Eher Neugierde.

    Wie setzt man sich am Theater durch?

    Als Regisseurin muss man viel zusammenbringen, bis man seine Ideen umsetzen kann. Das hat viel mit Erfahrung zu tun. Freie Häuser wie die Ka­serne Basel unter der Leitung von Carena Schlewitt oder auch Matthias Lilienthal, der damals das Hebbel am Ufer (Hau) in Berlin geleitet hat, haben mich sehr unterstützt, meinen eigenen Weg zu finden und mir zu vertrauen, aber grade an den Stadttheatern habe ich auch sehr schmerz­volle Erfahrungen gemacht. Ich musste immer wie­der viele Kompromisse ein­gehen, die dann eine künst­lerische Arbeit unmöglich ge­macht haben.
    Ich glaube, dass manche Regisseure da das Selbstver­trau­en verlieren und dann nicht weitermachen. Dieses Wei­ter­machen ist aber ent­schei­dend. Ich kann jedem nur raten, wei­terzumachen und dran zu blei­ben. Nur durch die konkrete Ar­beit und die Erfahrung lernt man, durch die Krisen zu kommen.

    Sie sind seit 2004 als Opern- und Theaterregisseurin tätig. Waren Sie schon immer ein Theaterkind?

    Ich komme mehr von der Musik. Ich habe schon als kleines Kind angefangen, Geige zu spielen und zu singen. Mit meiner Familie bin ich oft in die Oper gegangen. Zum Theater bin ich erst später gekommen.

    Als neue Hausregisseurin des Schauspiels Leipzig beeinflus­sen Sie maßgeblich das Image des Hauses. Wie?

    Die Musik wird wie gesagt in meinen Arbeiten eine sehr große Rolle spielen. Ich habe große Lust herauszufinden, welche Musiker und musika­lischen Institutionen es in Leip­zig gibt und hoffe sehr, dass es da in den kommenden Spiel­zeiten zu spannenden Zusam­men­arbeiten kommen wird.
    Außerdem freue ich mich sehr auf die Zusammenarbeit mit dem tollen und offenen En­semble am Schauspiel Leip­zig und einer hoch motivierten techn­ischen Abteilung.

    Sie haben an der Gessnerallee in Zürich, in der Kaserne Basel und am Hau in Berlin insze­niert. Das sind für mo­dernes, postdramatisches The­a­ter be­kannte Häuser. Arbeiten Sie experimentell?

    Ich bin bei jeder Arbeit auf der Suche, eine zum Thema pas­sende, spezifische Art der Darstellung zu finden und dazu muss ich Bekanntes immer wie­der neu hinterfragen. Es geht darum, die Welt von einer anderen Seite immer wieder neu zu betrachten und neu he­rauszufinden, wie Dinge zu­sammenhängen. Daraus ergibt sich dann vielleicht eine Form, die man von außen betrachtet mit dem Begriff „experimen­telles Musiktheater“ am besten beschreiben kann.
    Ich betrachte meine eigenen Projekte als eine Art For­schungs­labor zu verschiedens­ten Themen. Dazu ist es für mich wichtig, Begegnungen und intensive Gespräche mit an­deren Menschen zu führen. Seien es Physiker, die ich zum Urknall befrage oder schizo­phre­ne Patienten, mit denen ich über ihre Weltsysteme spreche.

    Mit ihrer 2006 gegründeten freien Theatergruppe „Capri­Connection“ machen sie diese Art von dokumentarischem The­ater. Ist das die neue Art zu inszenieren?

    Es geht dabei wie gesagt viel um die Suche und um die Begeg­nungen mit Menschen außer­halb des Theaters. Dadurch, dass wir bei unseren Projekten am Anfang mehr oder weniger gar nichts haben, müssen wir alles neu erfinden. Wenn wir ein eigenes Recherche-Projekt ent­wickeln, bin ich schon ein­ein­halb Jahre vor der Premiere in der Vorbereitung. Das ist ein langer Prozess. Es ist toll, dass ich diese Art des Arbeitens nun auch an ein Stadttheater brin­gen kann. Dass es dafür ein Interesse gibt.

    Ihr Projekt „La Bohème“ am Schauspiel Leipzig hätte vor einem Monat Premiere ge­habt. Können Sie uns davon erzählen?

    Bei der Inszenierung „La Bohème“ haben wir viel mit Leuten gesprochen, die am existenziellen Minimum gelebt und sich selbst als Künstler bezeichnet haben.
    Hinter dem Bahnhof in Leipzig auf den Gerberwiesen gab es eine große freie Fläche, auf der damals Obdachlose gelebt haben. Sie hatten dort einen Zeltplatz aufgebaut, den sie selbst organisiert haben. Dort haben wir unter anderem Franz getroffen, der diesen Ort sozusagen erschaffen hat. Für alle, die aus dem System he­raus­geflogen sind. Wir suchten Künstler, die auf eine radikale Weise leben. Sie haben uns eingeladen, bei ihnen am Feuer zu sitzen mit den Worten „setzt Euch doch, wir sind hier alle Künstler.“ Und dann haben sie uns ihre Geschichten, Ge­danken und Träume erzählt. Es geht in den Gesprächen viel um ein freies, selbstbestimmtes Leben außerhalb der Angst, ständig Geld für Miete und anderes auftreiben zu müssen, und um das Draußen-Sein. Ihre Art von Utopie des freien Lebens war sehr berührend.
    Als wir dann angefangen haben zu proben, hatten die Bauarbeiten bereits angefan­gen. Und Franz, der die Wiese nicht verlassen wollte ist, wie wir dann hörten, durch die ganze Aufregung vor Ort ge­storben. Anscheinend hatten die An­de­ren für ihn dort noch ein Schild aufgestellt, auf dem stand: „Hier ist Eden!“. Aber auch dieses Schild war nicht mehr zu finden.
    Jetzt werden dort Eigentums­wohnungen und Büros gebaut und niemand weiß mehr, dass dort mal Menschen gelebt haben. Das hat natürlich auch mit dieser Art Melancholie zu tun, von der ich sprach.

    Sie haben schon in Zürich, München, Berlin, Stuttgart ins­ze­niert. Anfang letzten Jahres mit „Eriopis“ auch zum ersten Mal am Schauspiel Leipzig. Unterscheidet sich das Publikum?

    In Leipzig gibt es ein sehr junges und sehr interessiertes Publi­kum. Grade in der Disko­thek, in der viele neue Sachen auspro­biert werden, habe ich das mitbekommen. Ich hoffe, dass diese jungen Leute auch alle ins große Haus kommen.
    Ich freu mich schon sehr, wenn „La Boheme“ endlich gezeigt werden kann und auf das Leipziger Publikum trifft. Es ist toll, dass Leipzig eine Studentenstadt ist.
    Leipzig empfinde ich außer­dem als eine sehr angenehme Stadt zum Leben. Grade im Vergleich zu Berlin ist Leipzig viel entspannter und sehr frei.

    Was hat die Theaterwelt aus der Krise gelernt? Die Schau­bühne hatte einen Online-Spiel­plan, das war nicht dieselbe Erfah­rung, wie im Publikum zu sitzen.

    Theater muss einfach live statt­finden. Man muss zusammen im Raum mit den Menschen sein. Das ist nichts, was man festhalten oder auf dem Com­puter schauen kann. Das ist einfach der Moment, in dem die Dinge passieren. Und dieser gemeinsame Moment ist so wichtig. Nur dann passiert auch diese Art von Magie, die einzigartig ist, die kann keine Übertragung ersetzen!

    Wie wäre eine Welt ohne Theater?

    Für mich wäre ein riesen Verlust zu spüren. Einfach weil das Theater die Möglichkeit gibt, anders auf die Welt zu schauen.
    Viele, die während der Krise keinen Kontakt mit dem Theater hatten, leiden richtig darunter, dass sie diese Begeg­nungen nicht mehr haben konnten. Ich hoffe, dass viele jetzt merken, das Theater etwas ist, auf das man nicht ver­zichten kann! Dass Theater diese Dringlichkeit hat. Theater ist wie Luft zum Atmen, das braucht man einfach.

    Wo wir bei einer Welt ohne Theater sind: Was wären Sie, wenn Sie keine Regisseurin wären?

    Das ist eigentlich lustig, weil das Theater das Gegenteil ist und trotzdem hat es etwas mit­einander zu tun: Ich wäre sehr viel in der Natur. Ich würde ganz sicher etwas tun, wo ich sehr viel Kontakt zu dem Draußen hätte. Und jetzt bin ich im Theater und sitze den ganzen Tag in geschlossenen Räumen. Es geht mir um das Eintauchen oder sich in etwas Verlieren, was man zum Beispiel kann, wenn man durch den Wald geht, den Vögeln und den rauschenden Blättern zuhört oder das spezielle Licht betrachtet. So eine Stimmung des Eintauchens kann man eben auch im Theater kreieren. Diese Art Magie, die ich draußen erleben kann, die kann ich im Theater durch die Verwebung von Sprache, Mu­sik, Licht, Video und anderen Techniken ebenfalls erzeugen.

    Titelfoto: Sima Dehgani

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