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    Die Hochschul-Selbsthilfegruppe geist:reicht der HTWK unterstützt Studierende bei Problemen im Studium. Auf ihrer Website fiel sie jedoch bis vor kurzem noch mit kritischen Aussagen auf.

    Gesetzlich schuldunfähig ist, wer wegen „Schwachsinns“ oder einer „schweren seelischen Abartigkeit“ das Unrecht der Tat nicht erkennt. Dieser Wortlaut des Strafgesetzbuches wurde zum ersten Januar dieses Jahres zu „Intelligenzminderung“ und „Störung“ geändert. Bezüglich mentaler Gesundheit hat sich in Deutschland viel getan in den letzten zehn Jahren. „Diese Änderungen sind zwar ein Fortschritt, aber noch nicht genug“, findet auch Martin Trippmacher. Er hat 2010 die Selbsthilfegruppe geist:reicht gegründet, seit 2011 ist sie Hochschulgruppe der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig. Das Konzept von geist:reicht unterscheidet sich von anderen universitären Beratungsstellen, indem die Selbsthilfegruppe auf den Austausch zwischen den Studierenden setzt. „Es bilden sich zudem selbstständige Arbeitsgruppen und die Studierenden merken, dass sie nicht allein sind. Ganz nebenbei entstehen bei uns auch gute Freundschaften“, erzählt Carmen*, Mitorganisatorin der Selbsthilfegruppe.

    Bis vor wenigen Wochen erinnerte die Website von geist:reicht jedoch an den Wortlaut des Gesetzes zur Schuldunfähigkeit. Die Website enthielt Formulierungen wie „unser Projekt bietet nicht nur soziale Perspektiven, sondern verfolgt auch Präventionsbestrebungen im volkswirtschaftlichen Interesse“, oder auch „Zudem sind mögliche Studienabbrecher(innen) oftmals die potentiellen „Problemkinder“ von morgen“. Trippmacher, der die Website vor zehn Jahren miterstellt hat, sagt: „Das war nicht so gemeint, wie das auf manch einen wirken mag. Bei uns ist niemand neoliberal ideologisiert.“ Man müsse bedenken, dass vor zehn Jahren die gesellschaftliche Deutung nicht übermäßig sensibel gewesen sei. Auch habe er die Website aus seinem eigenen Erfahrungsschatz herausgeschrieben: „Ich kenne nicht wenige Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, die zwanzig Jahre lang immatrikuliert waren, ohne letztlich einen Abschluss zu erlangen.“ Trippmacher erzählt von einer Studentin, die mit Ende dreißig und nach achtzehn Jahren Studium gemerkt hat, dass sie vielleicht auch deshalb so lange studiert hat, um unterbewusst ihre Eltern zu strafen, die sie zu diesem Studium gebracht haben und dieses finanzieren. In solchen Fällen möchte Trippmacher mit dem geist:reicht Projekt eingreifen. „Die Formulierung zu den Studienabrecher*innen ist unglücklich gewählt worden“, sagt er. „Wir haben viele Studierenden auch bei einer Entscheidung zu einem Plan B unterstützt. Ein Studium muss nicht für jede*n das Richtige sein.“ Gerade für Studierende, die psychisch stark belastet sind, könne das Studium eine schwere Zeit sein. Trippmacher findet aber auch, dass eine staatlich finanzierte Bildung zu einem gesellschaftlichen Mehrwert beitragen sollte. Bildung sei ebenfalls ein Wirtschaftsgut, wenn auch nicht unbedingt im monetären Sinn. Davon solle eine Gesellschaft auch in irgendeiner Form profitieren.

    „Manche Studierende kommen völlig überfordert zu uns und glauben, sie haben ein riesiges Problem“, sagt Carmen. „Erfahrene Mitglieder wie Martin kommen dann mit einem beachtlichen Wissensschatz und die Studierenden merken, dass ihre Probleme lösbar sind.“ Seit der Pandemie konnte die Selbsthilfegruppe einen Anstieg an Anfragen von rund 40 Prozent verzeichnen. Die Nachfrage habe sich inzwischen aber wieder normalisiert. Der reguläre E-Mail-Verteiler der Gruppe richte sich aktuell an rund 25 Studierende. „Zu den derzeitigen Online-Treffen kommen meist um die sechs bis acht Teilnehmende“ sagt Trippmacher.

    Mittlerweile findet sich auf der Website ein erneuerter Wortlaut. Es wird nicht mehr die Wirtschaft erwähnt, sondern „der positive Effekt für alle Menschen in unserer Gesellschaft.“ Diese Änderung erfolgte während der luhze-Recherchen zu diesem Artikel, als Reaktion auf die Kritik der Website-Formulierungen.

    *Möchte ihren Nachnamen nicht im Artikel stehen haben.

    Titelbild: Pixabay

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