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  • „Wissen ist eingebettet in Praktiken“

    Im Thema-Ressort der Januarausgabe haben wir uns mit Wissen beschäftigt. Ulrich Demmer, Leiter des ethnologischen Instituts der Universität Leipzig, spricht über das Konzept kognitiver Gerechtigkeit.

    Wissen ist Macht, die auch zerstörerisch sein kann: Das versucht die Theorie der kognitiven Gerechtigkeit begreiflich zu machen. Sie kritisiert, dass nicht-westliche Wissensformen im Kontext der Kolonialisierung und Globalisierung vielerorts verdrängt und zerstört wurden. Ullrich Demmer, Leiter des ethnologischen Institutes der Universität Leipzig, hat mit luhze-Redakteurin Theresa Moosmann darüber gesprochen, was die akademische Welt ändern müsste und warum das viel mit dem Kapitalismus zu tun hat.

    Ulrich Demmer. Foto: Privat

    luhze: Woher kommt der Diskurs um die Frage nach Gerechtigkeit und Wissen, insbesondere über kognitive Gerechtigkeit?

    Demmer: In den Achtziger-Jahren wurde im Zuge der Kolonialismuskritik zunehmend klar, dass vor allem hinsichtlich auf die vermeintlich Dritte Welt viel Wissen Herrschaftswissen ist. Der Begriff ‘kognitive Gerechtigkeit’ soll deutlich machen, dass der Ausbau von Alternativen zur bestehenden globalen kapitalitischen Ordnung auch auf der Anerkennung und der Anwendung alternativer und auch indigener Wissensformen basieren sollte. Wie auch bei Edward Saids Kritik am Orientbegriff, wird deutlich, dass Wissen stark als Macht- und Unterdrückungsinstrument des Westens fungiert. Die Idee kommt aber, um es auf eine Formel herunter zu brechen, aus dem Interesse an und aus sozialen Bewegungen des globalen Südens. Kognitive Gerechtigkeit ist eng verwoben mit ökologischer, sozialer und Geschlechtergerechtigkeit.

    An welchen politischen Prozessen wird kognitive Ungerechtigkeit deutlich?

    Entwicklungspolitik ist ein großer, wissensgestützter Diskurs, in dem viele Teile des globalen Südens mit den Begriffen „rückständig“ oder „entwicklungsbedürftig“ bezeichnet wurden und werden. Daraus resultiert, dass diese Länder schlichtweg den westlichen Ländern in ihrer Vorstellung von Fortschritt folgen sollen. Im 20. Jahrhundert dehnte sich im Zuge der Globalisierung die westliche Vorstellung und eine entsprechende Politik vom marktwirtschaftlich-kapitalistischen System massiv aus. Kristallisiert hat sich dieser Zustand im Wirtschaftsforum von Davos, das es bis heute gibt. Dort wird vor allem die Vorstellung  reproduziert  und gefestigt, dass es nur ein richtiges ökonomisches Wissen gibt.

    Wenn man den Begriff der kognitiven Gerechtigkeit verstehen will, muss man also weg von einer akademischen Vorstellung von Wissen und näher hin zu sozialen Realitäten?

    Ich hoffe, dass wir da schon sind. Es gibt kein überlegenes, kognitives Wissen, das per se mehr weiß als die Menschen vor Ort. Wissen ist eingebettet in Praktiken. Der Kapitalismus ist auch eine dieser Praktiken – nur nehmen wir das so oft nicht mehr wahr. Also müssen auch andere Formen des Wissens sichtbar und anerkannt werden. Körperliches, intuitives, spirituelles, handwerkliches Wissen sollten als mögliche Erkenntnisweisen oder Wissensformen als gleichwertig diskutiert und wahrgenommen werden. Wissen passiert nicht nur im Kopf, sondern überall, auch im Körper.

    Tun Sie bereits etwas für kognitive Gerechtigkeit?

    Wir bemühen uns im Moment, die Dekolonialisierung des Instituts voranzutreiben.  Zum anderen gehen wir der erkenntnistheoretischen Frage nach, wie Wissen entsteht. Es gibt Wissensformen, die marginalisiert sind. Wir stellen uns die Frage: Welche Wissensformen sehen wir gar nicht, weil sie aktiv unterdrückt werden? Wir versuchen außerdem am ethnologischen Institut auch Menschen einzuladen, die nicht nur aus der Akademie kommen und ich möchte die studentische Teilhabe an der Wissensproduktion inklusive der Lehre voran bringen, soweit das geht.  Wir müssen unsere Privilegien diesbezüglich nutzen.

    Gerade im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien könnte kognitive Gerechtigkeit auch missbraucht werden. Fakten und Wissen scheinen verhandelbarer beziehungsweise anzweifelbarer als früher. Wie würden Sie als Ethnologe der Aussage gegenüberstehen, dass es auch Wissenssysteme und Weltbilder gibt, die bekämpft werden müssen?

    „Bekämpft“ ist vielleicht eine etwas harte weil militärische Formulierung, aber ja, die Antwort darauf ist ein klares „Ja“. Das ist ein wichtiger Punkt, der noch nicht ernst genug genommen wird, denn Wissen ist immer politisch. Die Wissenschaft ist immer beteiligt aktiv an der Produktion gesellschaftlicher Lebensformen, sie artikuliert das sowohl explizit als auch implizit. Forschung ist deshalb immer auch politisch und ethisch positioniert. Deshalb ist es schon zu Beginn der Forschung eine ethisch-politische Frage, an der sich die Wissensproduktion orientiert: Welches gute Leben wollen wir helfen zu verwirklichen, im Denken und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit?

    Berichtigung: In der Print-Ausgabe Januar 2021 erschien dieses Interview unter der Überschrift Wissen ist verhandelbar”. Der Satz ist von Ulrich Demmer nicht gesagt beziehungsweise autorisiert worden. Wir möchten uns für den Fehler entschuldigen. Des Weiteren ist in der Printausgabe aufgrund eines Autorisierungsfehlers zu lesen, dass die letzte Frage mit „Nein“ zu beantworten sei. Wir haben dies in der obenstehenden Version korrigiert.

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