„Unsere Gesellschaft und unsere Demokratie brauchen Menschen mit Empathie“
Alexander Yendell ist Mitglied im Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig. luhze-Redakteurin Pauline Reinhardt sprach mit ihm über Extremismusursachen.
Alexander Yendell ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig. Außerdem ist er Mitglied des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung. Nach dem Anschlag in Halle hat er kritisiert, die Ursachenforschung fokussiere sich zu sehr auf die politische Dimension.
luhze: Sie haben nach dem Anschlag in Halle die Ursachenforschung kritisiert. Könnten Sie Ihre Einwände noch einmal zusammenfassen?
Yendell: Problematisch ist, dass die Art der Berichterstattung und auch einige öffentliche Reaktionen den Tätern zuspielen. Das fängt damit an, dass man den Namen dieser Täter nennt und sie als politisch motiviert bezeichnet. Das spielt den Rechtsextremen zu, denn man stilisiert solche Täter zu politischen Freiheitskämpfern, die andere namentlich genannte Täter wie den Attentäter von Christchurch oder von Oslo zum Vorbild nehmen. Sinnvoller wäre es aus meiner Sicht, solche Taten als schwerwiegende Hasskriminalität zu bezeichnen, um den Tätern Verantwortung für das Kernmotiv zurück zu geben. Rechtsextremismus und Rassismus sind in erster Linie kriminell und dürfen nicht als eine politische Meinung verharmlost werden, denn das macht sie für Rechtsextreme legitim. Hinzu kommt, dass wir bei den Ursachen jede einzelnen Tat beleuchten müssen. Dazu gibt es bereits eine Menge an Forschung, sie findet zu wenig Beachtung, sodass daraus oftmals unzureichenden Handlungsempfehlungen entstehen. Es reicht nicht aus, nur die Waffenrechte zu verschärfen und konsequenter gegen Hasskommentare im Internet vorzugehen. Das bekämpft nur die Symptome, nicht aber die Ursachen.
Was sind denn Ihrer Meinung nach die Ursachen für Extremismus oder auch allgemein für Gewaltbefürwortung und -bereitschaft?
Meine persönliche Meinung ist wenig relevant. Allerdings habe ich eine Überzeugung aus den wissenschaftlichen Studien, die es dazu gibt. Es sind viele Faktoren relevant; individuelle und gesellschaftliche Faktoren sowie Gruppendynamiken innerhalb einer extremistischen Szene. Es reicht nicht aus, sich einen einzelnen Indikator davon auszusuchen und beispielsweise zu sagen: „Der Kapitalismus ist allein dafür verantwortlich.“ Als befristet beschäftigter Wissenschaftler leide ich auch unter dem Kapitalismus, bringe aber keine Menschen um. Man muss daher multifaktoriell denken. Aber der wichtigste Ansatzpunkt liegt für mich bei den dysfunktionalen Familien. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder in liebevollen Familien aufwachsen. Es gibt zu viele Menschen, die hasserfüllt und sadistisch sind, das hat seine Wurzel meist in der Kindheit und Jugend. .
Dazu gibt es schon seit den 1930er Jahren Forschung, als der Begriff der autoritären Persönlichkeit aufkam und von Wilhelm Reich, Erich Fromm und Theodor Adorno sowie einigen anderen Forscherinnen und Forschern ein Zusammenhang zwischen einem bestimmten Erziehungsstil und autoritären Einstellungsmustern festgestellt wurde. Wir wissen seitdem eigentlich sehr genau, wo der Nährboden für Rechtsextremismus ist. In zahlreichen Studien hat man festgestellt, dass die meisten Extremisten Familien entstammen, in denen deren Bedürfnisse total übergangen wurden, häufig finden in diesen Familien emotionale Vernachlässigung und auch Missbrauch statt. Aus diesem Nährboden heraus entstehen Menschen, die nicht richtig lieben können, und ihren Selbsthass auf andere projizieren. Das ist sehr gut in dem Lied von den Ärzten mit dem Titel „Schrei nach Liebe“ zusammengefasst.
Natürlich gibt es auch gesellschaftliche Faktoren, so ein Täter wird möglicherweise nicht kriminell, wenn es so etwas wie Antisemitismus nicht schon gibt. Ebenso spielen Gruppendynamiken und Zufälle eine Rolle: Man weiß bei Rechtsextremen, dass es entscheidend ist, dass sie auch andere Rechtsextreme kennenlernen, deshalb ist es wichtig, diese Szene nicht zu verharmlosen.
Es ist auffällig, dass es mehr männliche Täter gibt. Was passiert mit Frauen, die in dysfunktionalen Familien aufwachsen? Sie werden anscheinend weniger häufig zu Tätern.
Ich weiß aus qualitativen Interviews, dass Rechtsextremismus sehr viel mit toxischer Männlichkeit zu tun hat, welches sich vor allem in einem Demonstrieren von Stärke und Gewalt ausdrückt. Die Täter haben oft kein männliches Vorbild, welches liebevoll ist, aber gleichzeitig auch Grenzen setzt. Auch die Mütter sind beteiligt. Eine plausible Vermutung ist, dass die Täter oft Mütter haben, die die Männer in ihrem Autonomiebestreben nicht fördern. Sie verhätscheln sie, die Täter sind oftmals „Muttersöhnchen“, die unbewusst andere Frauen stellvertretend für die eigene Mutter hassen. Rechtsextreme sind oft Machos und eigentlich sehr schwache Persönlichkeiten.
Männer sind zudem in der Regel gewaltbereiter und krimineller als Frauen. Da kann man lange drüber diskutieren, inwieweit die Kultur eine Rolle spielt, aber sicherlich spielen auch die Hormone eine Rolle. Testosteron macht bekanntlich aggressiv. Auch in Ländern, in denen es mehr Gleichberechtigung gibt, sind trotzdem Männer viel häufiger die Kriminellen.
Aber auch Frauen können rechtsextrem sein. Wir wissen aus der Leipziger Autoritarismusstudie von 2016, dass Frauen sogar etwas häufiger als Männer Gewalt befürworten. Sie selbst sind allerdings eher nur Unterstützerinnen und nicht Täterinnen, das hat sicherlich auch mit den körperlichen Unterschieden zwischen Frauen und Männern zu tun. Beate Zschäpe hat sich vor Gericht als Mitläuferin verkauft, die selbst harmlos sei. Zschäpe selbst ist auch ein gutes Beispiel für die Bedeutung dysfunktionaler Familien bei der Entstehung von Rechtsextremismus.
Wie kann man die familiären Ursachen darstellen, ohne die rechte Szene aus der Verantwortung zu ziehen, Teil dieser Radikalisierung zu sein?
Die rechte Szene ist ein Sammelbecken für labile Persönlichkeiten, die aus dysfunktionalen Familien kommen und eine vermeintlich starke Gruppe als Ersatz brauchen. Entradikalisierte Ex-Nazis sagen häufig, dass die extremistische Szene ein wichtiger Ersatz für fehlenden familiären Halt war. Aber diese Reflektion kommt leider erst nach der Erfahrung in einer solchen Gruppe. Auch politische Entwicklungen, wie die sogenannte Flüchtlingskrise, haben sehr viele solche Menschen radikalisiert. Aber kein Mensch – das wäre meine These –, der in liebevollen Verhältnissen aufgewachsen ist, kommt auf die Idee, sich so einer Gruppe anzuschließen oder Menschen wie Flüchtlinge oder Andersfarbige zu hassen. Wichtig ist, dass die benannten Ursachen nicht als Entschuldigung aufgefasst werden, sondern als eine Erklärung. Jemand, der ungünstige Erziehungsbedingungen erlebt, kann sich Hilfe holen. Nur muss diesen potentiellen Radikalen eine solche Hilfe auch angeboten werden.
Sie haben gesagt, dass man bereits im jüngeren Alter mit mehr Prävention ansetzen muss. Was ist mit den Menschen, die bereits erwachsen sind und potenziell Täter*innen werden könnten ─ wie kann man da helfen?
Das ist sehr schwierig. Zuerst müssen wir uns eingestehen, dass wir dieses Problem nicht von heute auf morgen lösen können. Rechtsextreme wird es noch über Jahrzehnte geben, wenn wir nicht etwas gegen die wichtigsten Ursachen der Radikalisierung von Rechten unternehmen. Wichtig ist, dass jetzt den Rechtsextremen die Verantwortung zurückgegeben wird. Dass man sagt: „Ihr seid kriminell. Ihr hasst andere Menschen, die nicht so sind wie ihr. Ihr grenzt sie aus und verstoßt dabei gegen geltendes Recht“. Das gilt nicht nur für Menschen, die Morde begangen haben, sondern auch für Parteifunktionäre wie den Faschisten Björn Höcke.
Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Prävention beispielsweise durch Sozialarbeiter*innen, die auf Rechtsextreme zugehen und sie dabei unterstützen, sich zu entradikalisieren. Bei Islamisten wird das bereits gemacht. Aber das Wirksamste ist die Prävention im Vorfeld der Radikalisierung: Es muss mehr in die Kinder- und Jugendarbeit, in Erlebnispädagogik sowie Beratung und Unterstützung von Familien investiert werden. Leider wurde in diesen Bereichen viel eingespart, dabei ist er so wichtig. Denn unsere Gesellschaft und unsere Demokratie brauchen Menschen mit Empathie.
Titelbild: Alicia Kleer


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