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  • Killerspieldebatte reloaded

    Es ist 2019 und noch immer müssen Teile der Popkultur als Sündenböcke für gesellschaftliche Missstände herhalten. Das geht am Thema vorbei, findet Kolumnist Dennis.

    Schon seit der Grundschule interessiere ich mich für Politik. Doch so richtig politisiert wurde ich um 2002, 2003 herum, nachdem ein Schüler an seinem Erfurter Gymnasium Amok lief und 16 Personen tötete. Kurz darauf wurde auf seinem Rechner das Spiel Counterstrike gefunden und die Demagogen der Unionsfraktion waren sich einig: Die sogenannten „Killerspiele“ sind der Grund für solche Taten. Das Thema ging anschließend wie ein Lauffeuer durch jede Talkshow und man konnte live dabei zusehen, wie Politiker offenkundig falsche Tatsachen über mein Lieblingshobby behaupteten.

    Vorreiter waren dabei der damalige bayrische Innenminister Günter Beckstein und der Kriminologe Christian Pfeiffer, die dem Medium Videospiel den Krieg erklärten und Verbote forderten. Erst sieben Jahre später, als ein Schüler in Winnenden Amok lief, kam man auf den Trichter, dass wohl doch eher die depressive Erkrankung ein Grund gewesen sein könnte und man sich auch nicht auf seine Spielbibliothek, sondern auf die fehlenden Schutzmechanismen von Waffenlagern zu Hause fokussieren sollte. Doch mein Misstrauen gegenüber konservativer Politik und den Medien blieb bestehen.

    Heute, zehn Jahre später, ist die Debatte plötzlich wieder da und man fühlt sich wie im falschen Film, denn wie kann es sein, dass das Narrativ des gewalttätigen Gamers heute immer noch funktioniert?

    Kolumnist Dennis

    War Gaming in den Nullerjahren noch eine – wenn auch schon sehr große – Nische innerhalb der Popkultur, ist es seit dem Einzug des Smartphones Massenmainstream geworden. 34 Millionen Menschen spielen hierzulande regelmäßig, die Politik schleimt sich zu jeder Gelegenheit bei diesen ein. Man denke zum Beispiel an Andy Scheuers und Dorothee Bärs Auftritt beim Computerspielpreis, die Werbung der Bundeswehr mit „Multiplayer at its best“, daran, dass eSports-Events mit Millionen-Preisgeldern binnen Sekunden ausverkauft sind und die Gamingbranche Hollywood wirtschaftlich längst abgehängt hat.

    Warum also stellt sich unser Innenhorst ins Fernsehen und will nach einem offenkundig rechtsextrem motivierten Anschlag die „Gamingszene“ beobachten und verprellt damit die paar wenigen nach der Artikel-13-Affäre noch verbliebenen jugendlichen Unionswähler? Geht es ihm nur darum, von tatsächlichen Problemen abzulenken, deren Lösung zu komplex sind? Sicherlich auch, aber das greift zu kurz.

    An der Stelle noch die Zwischenbemerkung: Ja, auch in der „Gamingszene“ gibt es Rassismus und Sexismus und das Internet wurde auch nicht das erste Mal für rechtsextreme Umtriebe genutzt – siehe Reconquista Germanica. Doch diese Teilunterwanderung ist nicht szenespezifisch und der Vorwurf, man würde nichts dagegen tun, ist Unsinn. Ganz im Gegenteil ist das Selbstverständnis der Szene international, multikulturell und entspricht sportlichen Grundsätzen.

    Die Antwort auf die Frage, warum wieder die „Killerspiele“ schuld sein sollen, lautet viel mehr: pure Hilflosigkeit. Während wir mehr oder weniger mit den neuen Medien und der dahinterstehenden Technologie aufgewachsen sind, entzieht sich dies einem Teil der vor allem älteren Bevölkerung fast gänzlich. Und da gibt es nun plötzlich Anschläge, die aus einer Gemengelage heraus organisiert werden, in der eine eigene Sprache, eine eigene Kommunikation, eine eigene Infrastruktur verwendet wird und die hinter Servern verborgen ist. Denn ich bezweifle, dass Seehofer zum Beispiel weiß, was ein Discord-Server ist. Die altbekannten Mechanismen, gegen solche im Netz verborgenen Strukturen vorzugehen, funktionieren nicht mehr, während man gleichzeitig durch das mediale Dauerfeuer schnell Antworten liefern muss. Das Resultat: Aktionismus, der am Thema vorbeigeht, denn man muss ja was tun – irgendwas.

    Doch auch wir sollten etwas tun und Leute, die uns derart an den notwendigen Lösungen vorbeiregieren, einfach nicht mehr wählen. Es geht nämlich nicht primär um die Kriminalisierung der „Gamingszene“, sondern darum, dass sich die Politik stetig auf die Falschen stürzt, während das eigentliche Problem ungestört weiter gedeihen kann. Die politisch Verantwortlichen haben gerade in diesem Kontext aus dem NSU-Debakel scheinbar nichts gelernt.

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