• Menü
  • Kolumne
  • Relikte aus der Vergangenheit

    Wo ist die Verspieltheit geblieben? Kolumnist Eric über die Sehnsucht der kindlichen Leichtigkeit.

    Oscar ist einer meiner treuesten Freunde. Vor ungefähr 15 Jahren sind wir uns das erste Mal im Leipziger Zoo begegnet. Es war ein schwüler Spätsommertag, meine Familie und ich waren schon auf dem Weg zum Zooausgang. Ich rannte schon vor, folgte doch der beste Teil des Tagesausflugs: der Gang ins Zoogeschäft. Die Regale quillten über vor Kuscheltieren, die beinahe echter aussahen als ihre Vorbilder aus den Tiergehegen. Wie Lianen im Dschungel hingen lange Plüsch-Schlangen von der Decke. Kleine Glibber-Spinnen lauerten in einer Holztruhe, dazu bereit, meine ahnungslose Mutter zu erschrecken. In beleuchteten Vitrinen reihten sich kleine Schleich-Tiere aneinander. Doch all das war für mich in dem Moment uninteressant, denn es gab in meiner Welt nur Oscar. So hatte ich ihn jedenfalls getauft, als mich die schwarzen Knopfaugen des Roten Pandas aus der hintersten Ecke des Shops anguckten, mir beinahe zuzwinkerten. Die gleichen Augen, die mich auch heute noch von meinem Bücherregal aus beobachten.

    Eine eigene Seele

    Heute stehe ich in der Nähe von einem Weihnachtsmarktstand und beobachte ein kleines Mädchen dabei, wie sie ihre Eltern mit leuchtenden Augen anguckt und mit ihren Fingern auf einen Plüsch-Elch zeigt. Oder wie ein Junge im Rossmann um die Ecke gerannt kommt, ein kleines Lego-Set unter den linken Arm geklemmt. Ich beobachte diese Kinder und muss lächeln. Hätte ich vor etwas mehr als zehn Jahren nicht selbst den ganzen Tag in der kleinen Spielwarenabteilung einer Drogerie verbringen können?

    Manchmal nimmt Oscar auch auf meinem Kopf Platz. Foto: privat.

    In puncto Spielwaren hat es in meiner Kindheit an nichts gefehlt. Auch wenn meine Eltern nie die Reichsten waren, waren sie umso glücklicher, wenn sie ihre Kinder glücklich machen konnten. Erstaunlicherweise hatte dieser leichte Überfluss bei mir jedoch nicht die Folge, dass mir die Dinge gleichgültig wurden. Im Gegenteil: Ich sorgte mich um mein Spielzeug wie eine Löwenmutter. Es bereitete mir innere Krämpfe, wenn ich andere Kinder sah, wie sie ihre Spielsachen achtlos in die Ecke warfen, sie wie zwei Feuersteine gegeneinanderschlugen, sie bemalten oder sogar anknabberten (igitt!). Wenn mir versehentlich doch mal eine Figur heruntergefallen ist, habe ich mich leise entschuldigt und sanft über den betroffenen Gegenstand gestreichelt.

    Für mich hatten alle meine Kinderspielzeuge eine eigene Seele, auch wenn mir klar war, dass ich am Ende doch nur irgendeinen Kunststoff in den Händen hielt. Toy Story hatte für mich immer einen wahren Kern. Deshalb haben die meisten meiner Plüschtiere und Spielfiguren einen Namen bekommen. Bis heute kann ich die Namen rezitieren, von Toni die Tüpfelhyäne über Platsch die Schneeeule bis hin zu Freddi die Flunder. Nicht zu vergessen ist der Chef meines Kinderzimmers: Tiger der weiße Tiger – ich weiß, sehr kreativ. Und natürlich Oscar, mein liebstes Plüschtier.

    Die meisten Relikte meiner Kindheit befinden sich heute in einem Sack und warten darauf, dass sie doch irgendwann mal wieder gebraucht werden. Denn es sollte auch bei mir die Zeit kommen, in der ich mich von meiner Spielwelt entfernt habe.

    Tempus fugit 

    Im Grundschulalter konnte ich es nicht nachvollziehen, wie sich Erwachsene über einen Bademantel oder Socken zu Weihnachten freuen können. Mehr als zehn Jahre später freue ich mich selbst, wenn ein neuer Bademantel oder Socken unter dem Weihnachtsbaum liegen. Anscheinend bin ich alt geworden.

    Dabei würde ich mich schon noch als großes Kind bezeichnen. Meine Wohnung schmücken Funko-Figuren und nicht allzu selten schlendere ich mit leerem Geldbeutel und großen Plänen durch den Elbenwald in der Hainstraße, um meine nerdigen Träume zu erfüllen. Doch selbst, wenn ich mich mal „belohne“, ist die Freude nie die gleiche, die ich damals im Leipziger Zoogeschäft empfand. Ich bin ein großes Kind. Oder besser: Ich bin mehr groß als Kind. Hinzu kommen die ganzen Probleme, mit denen sich ein zu overthinking neigender 22-jähriger Student herumplagt.

    Wenn ich mich heute beim Scrollen durch den Lego-Onlineshop ertappe oder gelegentlich nach neuen Sammelkarten Ausschau halte, die ich dann doch nicht kaufen werde, weiß ich: Nicht das Verlangen nach dem Produkt gibt den Ausschlag. Vielmehr bin ich auf der Suche nach einer Zeit, in der ich mir keine Gedanken über das Gestern und schon gar nicht über das Morgen machte. Wenn ich spielte, gab es nur diesen einen Moment. Diese eine epische Star-Wars-Schlacht, die ich mit meinen Lego-Figuren durchlebte. Die lange, gefährliche Wanderschaft, die meine Schleich-Kolonne auf sich nahm. Das Geheimnis, das die Playmobil-Familie im finsteren Wald lösen musste. Das Gemeinschaftsgefühl, welches ich beim Tauschen meiner Sammelkarten empfand.

    Ich versuche Gefühle wiederzubeleben, die schon längst im Grab der Zeit liegen. Das heißt nicht, dass ich keine Freude mehr empfinden kann. Ich muss mich nur damit abfinden, dass die Freude eine andere ist, als ich sie damals im Leipziger Zooladen fühlte. In einer Zeit, in der mich ein knuffiger, kleiner Roter Panda mit seinen schwarzen Knopfaugen aus dem Regal anlächelte. Als mein Glück allein von diesem Plüschtier abhing – und ich für kurze Zeit tatsächlich der glücklichste Mensch war, als ich mit meinem neuen Freund aus dem Laden stürmte. Damals, als Sorgen nur etwas für Erwachsene waren.  

    Die Zeit rennt. Oscar ist mein Zeuge.  

    Titelbild: eb mit Canva

    Hochschuljournalismus wie dieser ist teuer. Dementsprechend schwierig ist es, eine unabhängige, ehrenamtlich betriebene Zeitung am Leben zu halten. Wir brauchen also eure Unterstützung: Schon für den Preis eines veganen Gerichts in der Mensa könnt ihr unabhängigen, jungen Journalismus für Studierende, Hochschulangehörige und alle anderen Leipziger*innen auf Steady unterstützen. Wir freuen uns über jeden Euro, der dazu beiträgt, luhze erscheinen zu lassen.

    Verwandte Artikel

    Pressefreiheit unter Druck

    Angriffe auf Journalist*innen haben weiter zugenommen. Neben physischen und verbalen Bedrohungen sind auch rechtliche Schritte wie sogenannte SLAPP-Klagen ein häufiges Mittel der Einschüchterung.

    Wissenschaft | 29. Oktober 2025

    Therapie statt Beichte

    Autorin Lene hat nichts mit Religion zu tun. Dachte sie. Ein Zuggespräch mit einem Pfarrer wirft die Frage auf, ob unserer Generation ohne Glauben etwas Entscheidendes fehlt.

    Kolumne | 14. Dezember 2025