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  • Therapie statt Beichte

    Autorin Lene hat nichts mit Religion zu tun. Dachte sie. Ein Zuggespräch mit einem Pfarrer wirft die Frage auf, ob unserer Generation ohne Glauben etwas Entscheidendes fehlt.

    Ich liebe Zuggespräche. Blau-schwarz karierte Sitze, ein heller Holztisch, Zugproviant, Laptops und Bücher dazwischen. Und dann treffen sich die Blicke. Ein Lächeln gefolgt von einem ein Kommentar brechen das Schweigen. Viele von meinen Zuggesprächen beginnen mit einer Durchsage eines verzweifelten Lokführers, der einen außerplanmäßigen Halt zu entschuldigen versucht. So auch das Zuggespräch mit Thomas, das diesen Text veranlasst hat. Mit ihm spreche ich über Gott und die Welt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Thomas ist Pfarrer einer evangelisch-lutherischen Landeskirche.

    Gottlos

    Ein paar Schritte zurück. Ich habe eigentlich nichts mit Religion am Hut. Unreligiöser hätte ich nicht aufwachsen können. Meine Familie väterlicherseits stammt ursprünglich aus Sachsen, ich selbst bin im ehemaligen Ostberlin großgeworden. Nun ja, der vermeintliche Sozialismus in der DDR und die christliche Kirche vertrugen sich nicht gut miteinander. Mein Vater glaubt, dass nach dem Tod nicht mehr folgt, als dass man „die Radieschen von unten anguckt.“ Ich bin nicht getauft, nicht konfirmiert, nein, ich hatte ganz nach ostdeutscher Manier eine Jugendweihe im Friedrichsstadtpalast. Religionsunterricht hatte ich nur in der achten Klasse. Das war eine freiwillige AG am Montag, im fünften Block, also 15:30 bis 17 Uhr. Ihr könnt euch sicher denken, wie oft ich dort war.

    So ganz richtig ist es trotzdem nicht, dass ich nichts mit Religion am Hut habe. Denn meine Familie mütterlicherseits ist sehr religiös. Sie gehören den in Deutschland als Glaubensgemeinschaft anerkannten Zeugen Jehovas an. Meine Mutter hat dem Ganzen jung den Rücken gekehrt. Ich bin also nicht nur unreligiös, sondern vielmehr sehr religionsskeptisch erzogen. Dass John Lennons „Imagine“ regelmäßig aus Papas alter Anlage erklang und er sich immer ganz besonders über die Zeile „Imagine there’s no countries (…) and no religion too“ freute, hat mich in meiner negativen Einstellung zur Institution Kirche auch nicht gerade umgestimmt.

    Zwischen Gewitterfront und Glaubensfrage.

    Umso irritierter bin ich davon, dass ich da nun einem Pfarrer gegenübersitze, der mir in vielem näher ist als all das, was ich mit der Kirche verbinde. Er ist nicht absolut in seinem Glauben, nicht der Meinung, dass Menschen, die anders oder nicht glauben als er, einfach alle falsch liegen. Thomas ist offensichtlich feministisch gebildet, wir sprechen über Care-Arbeit, das Recht auf Abtreibung, das Frauenbild im Christentum. Er erzählt mir von Übersetzungen der Schöpfungsgeschichte, in der Eva nicht eine aus der Rippe des Mannes geschaffene Frau ist, sondern einfach ein menschliches Gegenüber. Thomas hat starke Krähenfüße, eine sanfte Stimme, eine Brille wie Petterson von Petterson und Findus, die er nach jedem zweiten Satz zurechtrückt. Er ist warm, weltoffen. Ja, wirklich nicht das, was ich im ersten Moment mit einer kalten, hierarchischen, konservativen Kirche verbinde.

    Rebellion und Neugierde

    Irgendwann gelangen wir alle an den Punkt, an dem wir hinterfragen, was unsere Eltern uns über die Welt beigebracht haben. Und so habe auch ich zu hinterfragen begonnen, ob Religion und Kirche denn wirklich so sehr zu verteufeln sind. Schlechter Wortwitz. Naja.

    Vor etwa vier Jahren setzte ich mich also intensiv mit dem alten und neuen Testament auseinander. Ich versuchte, diese riesige Bildungslücke zu stopfen. Besonders liebte ich die Geschichten vom Turmbau zu Babel, von David gegen Goliath oder der Heilung der blutflüssigen Frau. Dann begann ich mit Freund*innen – alle so wenig religiös wie ich – über die Werte zu sprechen, die dem Glauben zu Grunde liegen: Verantwortung, Nächstenliebe, Vergebung, Toleranz und Respekt.

    Immer wieder kommen wir aber zu dem Schluss, dass all das auch ohne die institutionalisierte Religiosität gelebt werden kann. Und besser: Dass die Realität des institutionalisierten Glaubens – der Ausschluss und die Unterdrückung von Frauen, von queeren Personen, all die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche, die Intoleranz, die oft fehlende Aufarbeitung der Kolonialgeschichte im Christentum – diesen ursprünglichen Werten widerspricht. Also bleibe ich bei meiner Religionsskepsis. So wie unzählige andere es auch tun. Die katholische sowie die evangelische Kirche verzeichnen seit Jahren hohe Mitgliederverluste.

    Leerstelle

    Dennoch. Obwohl sich so viel in mir sträubt, das zu schreiben: Ich komme nicht umhin, den Eindruck zu haben, dass uns als jungen Menschen etwas fehlt, wenn wir uns gänzlich von Glauben und Religion abwenden. Das Gespräch mit Thomas irgendwo zwischen Frankfurt und Mulhouse hallt nach. Er erzählt mir von seiner Arbeit in der Kirchenentwicklung. Wir teilen die Überzeugung, dass Kirche sich verändern muss, um überhaupt noch relevant zu sein. Thomas spricht einen Gedanken aus, der mich nicht loslässt: „Vielleicht ist diese ewige Rastlosigkeit, der fehlende Halt, den du bei dir und den Menschen in deinem Umfeld spürst, genau die gesellschaftliche Leerstelle, die das Fehlen der Religion hinterlässt.“ Hat er Recht oder missioniert er mich?

    Wir alle sind auf Gemeinschaft, Nächstenliebe, gegenseitige Unterstützung angewiesen. Eigentlich gefällt mir die Idee, mich einmal pro Woche mit Menschen aus meiner Nachbar*innenschaft zu treffen, gemeinsam zu singen und sich gegenseitig Jahrtausende alte Geschichten zu erzählen. Ob ich nun daran glaube, dass sie ganz genauso geschehen sind, sei mal dahingestellt. Vielleicht muss ich das nicht. Vielleicht reichen die Symbole, menschlichen Konflikte, Werte, von denen sie erzählen. Ich glaube, dass es schulen kann, Widersprüche auszuhalten, wenn man mit Menschen zusammenkommt, die sonst völlig außerhalb der eigenen Bubble existieren. Schlüsselwort Ambiguitätstoleranz. Auch das Glauben an eine höhere Macht – sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, stattdessen Verbundenheit mit etwas größerem als dem Selbst zu fühlen – ist das nicht gut? Das setzt einer so sehr optimierungsgetriebenen, individualisierten Leistungsgesellschaft doch etwas Wichtiges entgegen. Kann es progressiv und womöglich sogar kapitalismuskritisch sein, in die Kirche, Synagoge oder Moschee zu gehen? Ist das naiv?

    Zurück zum Glauben, gegen den Leistungsdruck?

    Denn wir halten multiple Krisen und den Anspruch der absoluten Selbstverwirklichung offensichtlich nicht mehr aus. Laut dem aktuellen Stressreport der Techniker Krankenkasse leiden zwei Drittel der Deutschen unter chronischem Stress – vor allem wegen hoher Ansprüche an sich selbst. So viele von uns leiden unter Einsamkeit. Und – mal ganz zynisch gefragt – würde es unserer Generation guttun, neben der Therapie auch zur Religiosität zurückzukehren?

    Denn natürlich kann Spiritualität außerhalb von institutionalisiertem Glauben stattfinden. Und sicher können wir auch außerhalb von Religion Strukturen schaffen, in denen wir uns gegenseitig auffangen können. Aber ist es nicht leichter, die bestehenden Strukturen für Engagement und die Orte der Begegnung zu nutzen? Die diskriminierenden Strukturen der in einem patriarchalen System gewachsenen Religion aufzubrechen, eine feministische Religiosität zu etablieren.

    Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich konvertieren werde. Meine Eltern schocken könnte ich damit sicher. Doch seit dem Gespräch mit Thomas sieht mein Browserverlauf etwas anders aus. Ich bin auf einige Initiativen gestoßen, die Kirche neu, progressiv, inklusiv, feministisch gestalten wollen. Und ich glaube, in diesen Projekten liegt viel Potenzial. Vielleicht ist das etwas, von dem ich bald Teil sein möchte. Vielleicht. Um Teil davon zu sein, gesamtgesellschaftlich zu dem zurückzukehren, worum es eigentlich geht. Um das Miteinander. Und – da würde mir auch Lennon zustimmen – um Liebe.

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