Der Sonntagsstaat
In Gießen wird unter massiven Protesten die neue AfD-Jugendorganisation gegründet. Derartige Vorgänge lehren unserer Kolumnistin Anneliese das Fürchten – obwohl sie doch Sonntagsruhe sucht.
Was ich brauche, wäre ein Sonntagsspaziergang. Also ein ernsthafter, wie aus dem Bilderbuch. Freie Gedanken, friedliches Herz. Eben Sonntagsruhe. Was ist daraus geworden?
Heute formt die Sonntagsfrage meinen Sonntag. Nun ist er kantig, verhärtet, hat nichts mit Seelenfrieden zu tun. „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?” Die Hochrechnungen potenzieller Wahlergebnisse bestimmen meine Sonntagsstimmung und geben den Takt an.
Anfang April dieses Jahres war es das erste Mal so weit: Bei der sogenannten Sonntagsfrage lag die AfD in einer deutschlandweiten Umfrage mit einem Stimmenanteil von 25 Prozent erstmals vor der Union auf dem ersten Platz. CDU und CSU kamen nur auf 24 Prozent. Ein historisches Umfrageergebnis – ich erinnere mich an besorgte Küchentisch-Gespräche mit meinen Engsten. Wir waren uns einig, dass das eine Zäsur sei und uns als Warnzeichen gelten solle, sofort aktiv zu werden, um bis zur nächsten Bundestagswahl Einfluss zu nehmen. Was naiv klingen mag, resultiert aus Angst. Und nicht selten hadere ich, ob diese Angst dystopischen Zukunftsfantasien geschuldet und übertrieben ist, oder angebracht.
Mittlerweile ist Dezember 2025. Seit August liegt die AfD bei manchen Umfrage-Instituten immer wieder vor der Union. Vergangene Woche gründete die AfD in Gießen ihre neue Jugendorganisation. Zehntausende reisten aus der gesamten Republik an und protestierten gegen die Veranstaltung, für das Land Hessen bedeutet dieser Tag einen der größten Polizeieinsätze der Landesgeschichte. Die Bundeswehr warnte ihre Soldaten vor Übergriffen, Bundeskanzler Merz warnte das ganze Land, „Sie werden heute Abend Fernsehbilder aus der Stadt Gießen sehen, die alles andere als erfreulich sind, eine Auseinandersetzung zwischen ganz links und ganz rechts.” Innenminister Dobrindt sprach von der Gewaltbereitschaft der Demonstrierenden, Videos zeigten vor allem schlagende Polizisten.
Und mir zeigte das Ganze wieder, dass es Viele gibt, die etwas gegen die AfD haben, und trotzdem eine Neugründung so nicht verhindert werden kann.
Die Bilder aus Gießen vermitteln mir das Gefühl, dass die nächsten Jahre und Jahrzehnte schwierig werden könnten. Dass mein Leben nicht wie das meiner Eltern in eine eher friedliche Zeit fällt, ich vielleicht wirklich mit einer dunklen Ära konfrontiert werde.
Aber Faschismus in Deutschland? “Die kommen ganz pünktlich 2033 wieder an die Macht.”, “Alle hundert Jahre wieder!” – mein Freundeskreis übt sich in Sarkasmus.
Was kann ich überhaupt verhindern? Wie viel Macht habe ich? Die klassische Ego-Frage in einer Demokratie. Mein Tatendrang, gefunden im Frühjahr, am Tag meiner persönlichen Zäsur durch die blaue Sonntagsfrage, wird ein ums andere Mal herausgefordert. Ich zerdenke den schlimmsten Fall der schlimmen Fälle, suche nach Lösungen und meinem Einfluss.
Vielleicht sollte ich mit Superlativen sparen, um keine Self-Fulfilling-Prophecy loszustoßen.
Durch die wöchentliche Umfrage hat der Sonntag eine neue Bedeutung für diesen Staat gewonnen. Früher war es üblich, sich sonntags besonders herauszuputzen, meist für den wöchentlichen Kirchgang. Das nannte sich Sonntagsstaat.
Titelbild: Anneliese Heindel
Porträt: Sylvana Schreiter
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