Lichtlyrik beleuchtet dunkle Novembertage
Unter dem Namen „Lichtw:orte“ werden im November Gedichte an den Uniriesen projiziert, die den Opfern der Novemberpogrome gedenken und auf aktuelle Flucht und Vertreibung aufmerksam machen sollen.
Verwunderung, Interesse, Rührung. Etliche Passant*innen bleiben neugierig stehen und legen den Kopf in den Nacken um die Texte zu lesen, die in leuchtenden Buchstaben auf den Uniriesen projiziert werden. Andere scheinen die Installation trotz ihrer Größe zu übersehen. Diejenigen, die die Zeilen dennoch auf sich wirken lassen, blicken auf Worte, die mitten ins Herz treffen. Lyrik aus unterschiedlichen Teilen der Welt erzählt von Flucht und Zuflucht –und, im Fall der Dichterin Ronya Othmann, auch von „Verlusten und Schmerz“. In einem Gespräch mit luhze erzählt sie, sie habe mit ihrem Gedicht: „Du zeichnest die Karte deiner Verluste“ etwas geschrieben, das sie „nur so und nicht anders“ sagen könne, über das „was Menschen zurückgelassen haben, und das, was sie mit sich tragen“. Dieses und weitere Gedichte, unter anderem Werke wie „Mein Dorf“ von Rojin Namer und „Heim“ von Ostap Slyvynsky, erhellen vom 3. bis zum 9. November den Augustusplatz abends von 17 Uhr bis 22 Uhr und sollen sowohl den Opfern der Novemberpogrome durch den Nationalsozialismus gedenken, als auch die Aufmerksamkeit auf aktuelle Vertreibung und Flucht lenken. Othmann gefällt die Installation mit dem Namen „Lichtw:orte“, sie findet, es solle „viel mehr Gedichte“ in der städtischen Öffentlichkeit geben.
„Mir gefiel die Idee, Innensichten, die sonst unsichtbar bleiben würden, an die Wand der Stadt zu werfen“, erklärt auch Initiatorin Kerstin Preiwuß, Professorin für Literarische Ästhetik in Leipzig. Ihre Vision war es, Fluchterfahrung und verschiedene Lebensrealitäten in Form von Lyrik für Nichtbetroffene greifbar zu machen. Gedichte seien „jederzeit allen zugänglich“ und würden bei der Interpretation „nicht bevormunden“. In Kooperation mit dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig und drei Leipziger Dichterinnen, Özlem Özgül Dündar, Anja Utler und Sibylla Vricic Hausmann, setzte sie diese Vision nach knapp eineinhalb Jahren in die Tat um. Die Wahl des Ortes hatte laut Preiwuß sowohl symbolische als auch praktische Gründe. Die Form des City-Hochhauses soll an ein offenes Buch erinnern, was metaphorisch den Zugang zu den Erfahrungen anderer unterstreicht. Zudem liege das Gebäude auf dem Alltagsweg vieler Menschen und die Lyrik könne Denk- und Gesprächsanstöße bieten.
Die Idee kommt gut an, jedoch wird die Umsetzung zum Teil kritisiert. Eine von luhze befragte Passantin findet die Installation „inspirierend“ und „wichtig“, weil es auch aktuell wieder ein „sehr großes Thema“ sei. Andere Befragte, die das Werk betrachten, tun sich schwer damit, es mit wenig weiterführenden Informationen und ohne Kontext zu interpretieren. Zudem, so ihre Kritik, erschwerten die teils erleuchteten Fenster des Gebäudes die Lesbarkeit. Laut Preiwuß jedoch sei dieser Effekt eine gewollte „Störästhetik“: „Liest man einen Text oder sieht man ihn sich an?“, fragt sie und meint, dass sowohl der Inhalt des Textes, als auch der Gesamteindruck bei der Wahrnehmung des Werkes eine Rolle spielen.
Die Installation schafft es durch ihre Größe und Neuartigkeit, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, jedoch schafft sie es nur bedingt, diese auch zu halten. Die emotionale Wirkung der Worte wird durch die teils schwere Lesbarkeit und die fast verspielten Effekte, mit denen die Texte eingeblendet werden, etwas abgeschwächt. Dennoch schafft es das Werk durch den spannenden Ansatz, private Einblicke in Form von Gedichten zugänglich zu machen, die angesprochenen Themen ein Stück weit wieder in das öffentliche und private Bewusstsein zu bringen.
Titelbild: Mia Peintinger
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