Studieren wo andere (er)frieren
Von Januar bis Juni, von der Polarnacht bis in den Polartag habe ich auf einer arktischen Insel verbracht. Umgeben von weiß. Bei -10 oder auch -32 Grad. Einige Eindrücke möchte ich hier teilen.
Ich sitze im Zug nach Hamburg und schaue aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Von Januar bis Juni habe ich in der Arktis studiert. Nun ist das Weiß Spitzbergens dem Grün der Wiesen und Wälder Norddeutschlands gewichen.
Ich sortiere Fotos. Beim Ansehen der Bilder fühle ich mich zurückversetzt in eine große Stille und Ruhe, die mich erfüllt hat: Gletscherfronten so gigantisch, dass ich es nicht glauben kann, Kontrastlosigkeit verschneiter Gipfel, Pastelllicht am eisigen Strand, das im März rosa auf sanfte Wellen fällt, geheimnisvolle Lautlosigkeit vorbeiziehender Eisberge, das Knirschen stapfender Füße im Schnee, heulender Wind, der die Fensterscheiben zum Zittern bringt
Nichts hiervon wirkte bedrohlich oder feindlich – eher friedlich. Absurd. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie leicht die Natur durch ihre Schönheit zu waghalsigen Abenteuern verführen kann. Gefahren werden auf Spitzbergen versteckt unter Schnee und Eis. Sanfte Riesen wirken zu perfekt, als dass sie Mensch und Tier das Leben nehmen könnten. Die Gefahr ist Teil ihrer Schönheit.
Zu Hause im Zug achte ich gar nicht auf die an mir vorbeiziehende Natur. Sie ist auf den Menschen zurechtgeschnitten. Ist mir kalt, kann ich den Winter im nächsten Buchladen oder Café aussperren. Weiß ich den Weg nicht, hilft mir Google Maps. Verletze ich mich, holt mich der Krankenwagen ab. In unserer gemachten Natur können wir gedankenlos leben.
In dieser Fotoreportage möchte ich die nahezu unberührte arktische Natur, zeigen, in der wir Austauschstudierenden viele Abenteuer erlebt haben, während denen wir immer wieder festgestellt haben, wie machtvoll unsere Umgebung und wie klein wir sind. Aber gerade deshalb lässt einen derselbe Berg immer wieder staunen. Jede Aktivität fühlt sich echter an.
Schneehuhn am Sonntag. Sie sind die einzigen Vögel, die uns ganzjährig vor die Füße gestolpert sind. Dieses hier habe ich erst sehr spät gesehen. Habe es fast über den Haufen gelaufen, so nah waren wir schon. Wir haben einen Ausflug unternommen und dann stand es da: etwa zwei Meter von mir entfernt und kam auf mich zugelaufen. Wie viele Tiere hier haben Schneehühner keine Fressfeinde und daher auch wenig Fluchtinstinkt. Im Sommer wechselt ihr Gefieder und sie werden braun. Ich finde, sie sehen immer ein bisschen aus, als hätten sie weiße Fellstiefelchen an den Füßen. Und falls es Euch nicht aufgefallen sein sollte, dieses Schneehuhn wirft Licht auf den Boden und nicht Schatten. Ganz besondere Tiere eben.
Svalbardrentier. Noch ein Tier ohne Fluchtinstinkt! Dieses Foto habe ich direkt vor unserem Wohnheim aufgenommen. Aus dem Küchenfenster haben wir anfangs immer noch nach Rentieren gesucht, um im richtigen Moment rauszugehen. Am Ende war es so normal, eines auf dem Weg zum Supermarkt oder bei einem Spaziergang in den Fjord zu treffen. An einem der letzten Tage habe ich einen Touristen ein Rentier streicheln sehen. Es stresst diese Tiere sehr, wenn wir Ihnen näherkommen. Die Rentiere in der Stadt sind aber wohl sehr an Menschen gewöhnt. Svalbardrentiere sind wesentlich kleiner und meiner Erfahrung nach auch dicker als Festlandrentiere.
Borebreen. Hier kommt der erste Gletscher. Wir haben ihn vom Schiff aus gesehen. Er mündet ins Meer, das zu dieser Zeit aber an der Eisfront zugefroren war. Rechts im Bild wirkt der Gletscherglatt, aber der Schein trügt. Links im Bild wird deutlich, wie zerfurcht die Oberfläche ist. Durchzogen von Gletscherspalten. Es sind Stellen sichtbar, die frisch abgebrochen scheinen. Blaues altes Gletschereis. Diese Eisriesen sind eines der beeindruckendsten Dinge, die ich auf Spitzbergen erleben durfte.
Eiswand im Nirgendwo. Diese wunderschönen Strukturen haben wir auf einem Ausflug zur Ostküste der Insel aufragen sehen. Das dunkle Blau ragte schräg aus der sonst einheitlichen Schneelandschaft. Die Wand war etwa drei Meter hoch. So tiefblaues Eis ist mir woanders nie aufgefallen. In altem Eis sind weniger Luftbläschen eingeschlossen, es ist dichter und dadurch blauer als junges Eis. Gletschereis auf Spitzbergen ist mehrere tausend Jahre alt.
Walross vor der Hafensauna. Diese beiden Giganten sind Mutter und Kind. Im kältesten Monat März hatten sich auch im Hafen von Longyearbyen, der Hauptstadt der Insel, größere Eisschollen gebildet. Das schwere Tierpaar auf dem Foto lag etwa fünf Meter vom Steg entfernt. Trotz ihrer Massigkeit sind sie niedlich, aber natürlich nicht zu unterschätzen. Ein Fakt, der allen Studierenden in der „Safety Week“ am Anfang Angst gemacht hat; sie saugen ihre Beute mit dem Rüssel aus. Normalerweise Muscheln, aber ab und zu wurden auch ausgesaugte Robbenkörper gefunden.
Fuchs vor der Studentenhütte. Wir hatten unser Hühnchen draußen vergessen und da war dieser kleine Kollege natürlich sofort interessiert. Füchse sind im Winter ganz weiß und sehen sehr plüschig aus. Dieser hier ist schon im Fellwechsel für den Sommer. Farben der Saison; im Winter weiß, im Sommer braun. Die Kleinen sind scheuer als Rentiere, aber in dem Bereich, in dem dieser uns begegnet ist, werden sie von vielen Hüttenbesitzern angefüttert. Und daher sind sie weniger scheu als sonst.
Eisbärspuren auf dem Meereis. Diese Abdrücke sind vermutlich mein erfolgreichster Versuch, einen Eisbären zu sehen. Der König der Arktis ist hier aber leider baden gegangen, lange bevor ich an der Stelle war. So haben wir vom Boot aus nur seine Tapsen gesehen. Sehr große Tapsen – länger und breiter als meine Hand und auch mein Fuß. Vom Boot aus ist die wahrscheinlich angenehmste Art, einem Eisbären zu begegnen. An Land kann man schnell als Beute missverstanden werden. Da fühlt es sich gut an, eine Waffe dabei zu haben. Das ist außerhalb der Stadt auch verpflichtend. Als wir bei einer unserer Wanderungen im Tal Schüsse gehört haben und dachten, jemand hat sich verteidigen müssen, waren wir sehr froh, dass es keinen Bären auf unserem Rückweg gab. Es muss im Februar gewesen sein, da gab es einen Zwischenfall mit einer Touristengruppe – zum Glück wurde niemand ernsthaft verletzt.
Pancake-Eis. Eine Stufe der Meereisbildung. Salzwasser friert anders als Süßwasser. Bevor diese Pancake-Struktur entsteht, wird die Wasseroberfläche zu einem zähflüssigen Eisschlamm. Durch Seegang entstehen dann die Formen und keine geschlossene Eisdecke. Der Rand der Pfannkuchen ist höher, weil sie in den Wellen immer gegen die anderen stoßen. Eine wirklich schöne Spielerei der Natur. Wenn jemand wusste, dass es Pancake-Eis gab, waren wir alle am Strand oder im Hafen, um es sich anzuschauen.
Schwarzer Guillemot. Sie sind die Pinguine der Arktis, nur dass sie fliegen können. Allerdings mit Startschwierigkeiten, wie man hier sieht. Manchmal sind sie auch einfach lange auf dem Wasser gelaufen und dann einfach wieder ins Schwimmen übergegangen.
Eisberg. Unerwarteterweise das Schönste, was ich hier gesehen habe. Eisberge haben eine stille Schönheit. Dieser reicht unter Wasser noch 20 Meter tief bis zum Grund des Fjords an dieser Stelle. Das bedeutet, er schwimmt nicht, sondern ist auf Grund gelaufen. Wir sind mit dem Schiff einmal drum herumgefahren. Mystisch wie groß und auch geheimnisvoll. Eisberge waren einmal Teil eines Gletschers, bis sie von seiner Front abgebrochen und ins Meer gefallen sind. Sie bestehen aus Süßwasser-Eis.
Schneeammer auf Benzinkanistern. Der einzige Singvogel Spitzbergens begibt sich erst im Sommer wieder in den Norden. Wir alle haben uns sehr gefreut, als das erste Vogelgezwitscher die vorherige Stille zum ersten Mal durchbrochen hat. Ein hässlicher Nebeneffekt des Sommers: der zugeschneite Müll, den Menschen hier und da liegen lassen, taut frei. Auf dem Bild zu sehen sind zwar nur die Benzinkanister für lange Schneemobiltouren, die sich auch im Winter nicht verstecken. Aber vielleicht können sie hier symbolisch stehen für die Verschmutzung des Gebiets durch Plastikverpackungen, Kohlestaub der Mine und Reifenabrieb der Autos und vor allem natürlich für die Abgase der Schneemobile, Flugzeuge, die täglich ankommen, Kreuzfahrtschiffe im Sommer, die ihre bis zu 4.000 Passagiere in der 2.000-Seelen-Stadt auskippen, stehen.
Jeder hier, auch ich, wirkt wie ein Eindringling in eine einerseits menschenfeindliche Umgebung, die uns schaden kann, aber der vor allem wir durch unsere Eingriffe schaden können – und das nachhaltig. Vielleicht wirkt die Natur hier gigantisch, machtvoll und einfach unzerstörbar, aber das ist sie nicht.
Abseits der Verschmutzung durch Müll und Abgas ist die Arktis das Epizentrum des Klimawandels. Unsere Dozentin in dem Modul Schifffahrt in der Arktis erzählt uns von Zeiten, in denen sie mit dem Truck von Longyearbyen über das Meer bis in die alte russische Bergbausiedlung namens Pyramiden fahren konnte, weil das Meereis so weit reichte. Das ist heute nicht mehr möglich. Eisbären haben Schwierigkeiten bei der Robbenjagd, weil das Meereis in manchen Gebieten nicht mehr zuverlässig ist, wie noch vor einigen Jahren. Die Gletscher, die sich so kalt und massig aus den Fjorden schieben, als würden sie nie aufhören, verändern sich. Es muss im Februar gewesen sein, da hatten wir eine Woche Regen und Tauwetter. So beeindruckend es ist, diese Berge mit unfassbaren Schneemassen, diese Gletscher und diese Tiere zu sehen, genauso beängstigend ist es, festzustellen, wie fragil all das ist.
Ich bin in Hamburg angekommen, steige aus dem Zug. Laufe zum nächsten Gleis. Was hier wohl war, als es noch keine Stadt gab? Wie die Arktis sich wohl im Laufe der Jahre verändert…
Titelbild: Unter einem im Meer eingefrorenen Eisberg an der Ostküste; Paula Busch
Fotos: Paula Busch


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