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    Charakter nach dem Ausschlussprinzip oder: Was Vurst und Vibrator wirklich verbindet. Ein Gedankenexperiment zur Rolle von Verzicht in der Identitätsbildung.

    Wenn über Leipzig die Sonne aufgeht, dann stellen sich tausende Menschen jeden Tag wieder die Frage: Wer bin ich eigentlich und wer möchte ich sein? In einer Stadt, in der die linke Szene und junge Menschen gemeinsam und doch ganz für sich nach Identität suchen, brodeln die Trends, florieren die experimentellen Frisuren, spalten sich politische Strömungen und fordern uns tagtäglich heraus, Meinung zu zeigen – Identität zu definieren. Dabei ist es oft einfacher, den eigenen Charakter nach dem Ausschlussprinzip zu formen. Verzicht über Leidenschaft. Einfache Ablehnung vor gewagtem Bekenntnis. Ich nehme euch mit auf die gedanklichen Abwege eines faulen Sonntags mittendrin im Kessel der Selbstfindung. Ein abstruser Vergleich folgt.

    Es gibt Tage zum Existieren und dann gibt es Tage zum Vegetieren. Die sind vorbei, bevor sie angefangen haben. An solchen Tagen gehe ich ins Café. Sein, sehen, gesehen werden und sich im Sonnenschein den sinnlosen Gedanken an den Hals werfen. Heute ist so ein Tag. Während ich dort in der Hitze vor mich hindämmere, vor mir ein veganes Vurst-Väse-Panini, mit leuchtenden Spektren aus Rot- und Orangetönen vor den geschlossenen Liedern, belausche ich die beiden Gäste am Nachbartisch. „Unsensibel…alle lesbisch werden…“, „…alle gleich…immer nutzlos…“. Fetzen dringen zu mir durch und verführen meine Gedanken auf Abwege. Sie sind frustriert – es geht um Männer.

    Sommer. Sonne. Identität. Foto: privat

    Ob Mann, cis Mann, hetero Mann, cis hetero Mann, weißer cis hetero Mann – in bestimmten Kreisen ist Mensch sich einig: Das Konzept ,,Mann“ ist ein Auslaufmodell. Ein Auslaufmodell, das eine für meinen sonnenstichnahen Kopf beeindruckende Ähnlichkeit mit einem anderen Trend aufweist. Fleisch, Bio-Fleisch, Fleisch von glücklichen Tieren, Fleisch von traurigen Tieren, Demeter-Bio-Fleisch von traurigen Tieren. Erinnern wir uns einmal zurück in das Jahr 2024. Nachdem bereits Konrad Adenauer die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufkommende Hungersnot mit der sogenannten Soja-„Friedenswurst“ bekämpfen wollte, wird im Oktober 2024 die Frage um die Wurst bis vor den Europäischen Gerichtshof getragen. Dieser ebnet der Ersatzproduktindustrie den Weg und erlaubt künftig die Verwendung von typischen „Fleischbegriffen“ für ihre pflanzlichen Alternativen. Das Ende einer leidenschaftlich ausgefochtenen Debatte und ein Vertrauensbeweis in das Urteilvermögen der Bürger*innen. Die Menschen entrüsten sich, die Menschen gehen auf die Barrikaden. Auch das Konzept „Fleisch“ ist ein Auslaufmodell. Und wem es bisher noch nicht bewusst war, dem dämmert spätestens jetzt: Markt und Lobby für Fleischersatz wachsen rasant und zum Kundenstamm gehören längst nicht mehr nur die eisernen Veganer*innen, Vegetarier*innen, Pescetarier*innen, … sondern Menschen, die die Seitan-, Sojaprotein- und Sellerie-Alternativen nicht nur als ethische und umweltfreundliche Alternative zu tierischem Fleisch schätzen, sondern aus purem Genuss konsumieren. „Aber wenn Vurst, Vilet und Vleischsalat herhalten als das bessere Fleisch, was ist dann der bessere Mann?“, rennen meine Gedanken voraus und ziehen die Parallelen.

    Kundenorientiertes Design…Qualitäten behalten und Nachteile verwalten…große Auswahl an Formen und Farben…Genuss und steigende Verkaufszahlen. „Ringringring! Herzlichen Glückwunsch! Die Antwort ist Sextoy!“, schrillt plötzlich die Glücksradstimme in meinem Kopf. Peinlich berührt von mir selbst schiebe ich den Gedanken beiseite, aber warum eigentlich nicht? Oder sollten wir uns nicht eher fragen: Warum ist Verzicht – Verzicht auf Fleisch, Verzicht auf Alkohol, Verzicht auf Männer – so eng verwoben mit unserer Identität?

    Vor meinen Lidern ist es dunkel geworden, die Sonne wird durch eine gigantische graublaue Wolke verdeckt. Draußen sieht es so aus, als würde gleich der nächste als sanfter Sommerregen getarnte Starkregen-Schauer die aufdringliche Hitze davonspülen und auch meine Gedanken mitnehmen. Doch ich weiß, ich werde mir noch lange den Kopf zerbrechen. Darüber warum es manchmal beängstigend ist, zu seinen Positionen und Leidenschaften zu stehen. Darüber, warum es oft leichter fällt unsere Entscheidungen durch die Ablehnung der Alternative zu begründen statt mit unserer eigenen Überzeugung.

    Titelbild: Pngplay2025

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