Zu Hause auf dem Wagenplatz: Alternatives Wohnen schafft Biodiversität
Mitten in Plagwitz ist eine grüne Oase entstanden, die besonders an heißen Sommertagen ein Zufluchtsort für Mensch und Natur ist. KarlHelga zeigt, wie nachhaltiges Leben im Bauwagen aussehen kann.
Neben dem mit Stickern und Plakaten beklebten Metalltor prangt ein hölzernes Schild, auf dem der Name des Platzes in schwarzen Buchstaben eingeritzt ist: „KarlHelga“. Hinter dem Tor führt ein breiter Weg vorbei an Bauwagen und alten Bussen ins Innere. Aus den Baumwipfeln erklingt Vogelzwitschern. Der Weg mündet in einen Feuerplatz, umringt von Bänken und anderen Sitzgelegenheiten. Links steht ein Häuschen mit Küche und Theke, über der ein Schild mit der Aufschrift „Essen für Alle“ hängt. Jeden Montag findet hier die Essensausgabe der Küfa (Küche für alle) statt. Rechts befindet sich eine Halle aus Backstein, die für öffentliche Veranstaltungen genutzt wird. Die Pfade verzweigen sich weiter über das Gelände: vorbei an bunten Bauwagen, einem Gemeinschaftsgarten, Teichen und einem Spielplatz. Das alles ist das „Wohnzimmer“, wie Birte Lampart es nennt. Die freiberufliche Dolmetscherin lebt seit 2015 auf dem Wagenplatz.
Der Wagenplatz KarlHelga im Stadtteil Plagwitz ist einer von mehreren der Stadt. Auf etwa einem Hektar sind derzeit 45 Erwachsene und zehn Kinder in 80 Wägen dauerhaft zu Hause. Dazu kommen über 700 Bäume, die dem Baumschutzgesetz unterliegen, sowie weitere Pflanzen- und Tierarten. Sowohl die Natur als auch die menschlichen Bewohner*innen des Platzes sind divers: „Als Gemeinschaftsprojekt sind wir hier ein Querschnitt der Gesellschaft, der sich auch mit den gesellschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzt“, sagt Lampart. Unter den Bewohnenden sind Lehrer*innen, Wissenschaftler*innen, Handwerker*innen und Kunstschaffende. Zusammen habe man einen Freiraum geschaffen, in dem die Wohngemeinschaft selbstverwaltet lebe.
Hitze trotzen: Grüne Insel im Leipziger Westen
Bevor die ersten Pächter vor etwa siebzehn Jahren auf den Platz zogen, lag die Fläche brach, mit Ausnahme von einzelnen Pappeln. Seitdem ist hier eine „Biodiversitätsinsel“ entstanden, wie es die Leipziger Ortsgruppe des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) nennt. Dabei ist besonders Plagwitz mit rund 76 Prozent ein stark versiegelter Stadtteil Leipzigs, das geht aus einer von Correctiv durchgeführten Studie hervor (Stand: 2024).
Bauwagen bieten in dieser Hinsicht einen entscheidenden Vorteil: Das Zuhause auf Rädern braucht im Gegensatz zu anderen Wohngebäuden kein Betonfundament – der Boden bleibt also unversiegelt. Der eher kleine Wohnraum der Menschen von etwa 20 Quadratmetern, bietet der Natur Raum zur Entfaltung: „Wir haben die Natur wachsen lassen und sie nicht behindert. In der Symbiose miteinander konnte der Platz so entstehen“, sagt Lampart mit Hinblick auf die Renaturierung. Mit Totholzhaufen, Hecken, Bäumen und Teichen ist ein vielseitiger Wohnraum entstanden: „Wir haben Nischen geschaffen – auch für seltene Arten, die auf dem Bürgerbahnhof teilweise verdrängt werden und dann hier Zuflucht finden. Dazu gehören Wechselkröten sowie Laubfrösche und viele Vogelarten wie Spechte und Zaunkönige“, beschreibt Lampart.
Der Wagenplatz sei nicht nur aufgrund der Artenvielfalt besonders schützenswert, sondern auch für seine positive Wirkung auf das Stadtklima, heißt es vom BUND. Besonders in den dicht bebauten Stadtteilen wie Plagwitz brauche es Orte wie KarlHelga, die aufgrund von Verdunstung und Regenwasserbildung Kalt- und Frischluftschneisen bilden könnten. Zur Veranschaulichung: Die durchschnittliche Kühlleistung eines Baums entspricht der von zehn Klimaanlagen.
Wagenleben: unkommerziell und nachhaltig
Für Lampert bedeutet Nachhaltigkeit zum einen der bewusste und unkommerzielle Umgang mit endlichen Ressourcen und zum anderen die Gleichberechtigung aller Lebewesen – ein Konsens, den viele auf dem Platz teilen würden und der auch im gemeinnützigen Verein des Wagenplatzes Klingeding verankert ist. Dabei ermögliche das Wagenleben, die eigenen Ansprüche auf Nachhaltigkeit praktisch umzusetzen: „Teil des Wagenlebens ist, dass zum Beispiel viel selbst gemacht, selbst gebaut und recycelt wird“, so Lampert. Indem jede*r in der Gemeinschaft verschiedene Fähigkeiten mitbringt, helfe man sich gegenseitig bei der Umsetzung von Projekten, Reparaturen oder gemeinsamen Bautagen.
„Es braucht eine Bereitschaft, sich auf das Wesentliche zu reduzieren“, beschreibt Lampert das Leben auf dem Wagenplatz. Zum Alltag gehört das Wasserholen vom benachbarten Wohnprojekt. Im Winter muss Holz gehackt werden, um den Bauwagen zu heizen. Statt Chemietoiletten, wie sie oft in Campern verbaut werden, nutzt man auf dem Wagenplatz Komposttoiletten. Bei der Stromversorgung gehen die Bewohnenden unterschiedlich vor: Während die einen mit Solar- oder Windenergie autark sind, nutzen andere Feststrom. Lebensmittel beziehen Wagenbewohner*innen unter anderem aus dem Mitgliederladen oder direkt von Projekten solidarischer Landwirtschaft. In wöchentlichen Plena organisiert sich die Wohngemeinschaft. Bei Veranstaltungen, Konzerten oder der Küfa am Montag kommen Menschen aus der Nachbarschaft und anderen Stadtteilen im „Wohnzimmer“ von KarlHelga zusammen.
Zukunftsvisionen fürs Stadtklima: Freiräume erhalten und weiterdenken
Lampart schätzt die Bereitschaft der Stadt Leipzig, Freiräume für „experimentelle Ideen, neue Start-ups, Vernetzung, Gewerbe und Kollektive“ zu fördern. Seit der Corona-Pandemie gebe es einen intensiveren Austausch über nachhaltige Stadtplanung sowohl in der Stadtpolitik als auch zivilgesellschaftlich. Ein Problem für die Stadtentwicklung seien Großkonzerne, die Flächen und Wohnraum erwerben, ohne die Bedürfnisse vor Ort zu kennen, meint Lampart.
KarlHelga ist selbst seit 2020 von Bebauung bedroht: Die Immobiliengruppe CG Elementum, Teil der Unternehmensgruppe von Christoph Gröner, hatte das Gelände erworben und dort eine Logistikhalle geplant. Schon vorher hatte der Verein KarlHelga Wagenplatz versucht, die Fläche zu kaufen. Seit den Insolvenzverfahren der CG-Gruppe im vergangenen Jahr habe sich eine neue Chance für den Kauf ergeben. Derzeit arbeite der Verein mit drei Fachanwält*innen zusammen, um Verhandlungen mit den Kreditgebern der Immobiliengruppe zu ermöglichen. „Wir sind die ganze Zeit mit allen Ressourcen in einer Auseinandersetzung mit der Stadtpolitik, anderen Städten sowie Sozial- und Wagenvernetzungen, um den Freiraum erhalten können. Für uns, das Stadtklima, die Tiere“, sagt Lampart. Finanzielle Unterstützung bekommt der Verein unter anderem durch Direktkredite, auch Nachbarschaftsdarlehen genannt. Damit können Privatpersonen das Projekt mit selbstgewählter Summe fördern. Für Ende Juni ist außerdem eine Crowdfunding-Kampagne geplant, durch die Interessierte auch kleinere Geldbeträge spenden können.
Für die Zukunft wünscht sich Lampert vor allem von Akteuren getragene Projekte in Plagwitz und über das Viertel hinaus. Das wäre beispielsweise mit Genossenschaften als Organisationsform möglich. Lampart erklärt: „Das wäre viel nachhaltiger für alle, die dort leben und würde sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren.“
KarlHelga bleibt vorerst ein Ort, an dem diese Zukunftsvision umgesetzt wird. Umgeben von Gewerbehallen und Wohnhäusern trotzt die grüne Insel der Sommerhitze. Über den bunten Bauwagen rauscht der Wind im grünen Blätterdach. Eine Amsel flattert unter dem Dach der Holzterrasse hindurch. In der Ferne summt ein Schleifgerät. Abends werden die Grillen am Teich zum gemeinsamen Konzert anstimmen.
Fotos: Birte Lampart


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