Europas Hunde: Wie durch die Freiheit von Sprache ihre Grenzen bewusst werden
Ein sprachgewaltiger Roman über Diktatur, Identität und eine dystopische Zukunft Europas – fordernd, politisch und literarisch radikal.
Vorab: Für alle Fans von schneller Lektüre ist dieser Roman ungeeignet. Schon die Tatsache, dass diese Rezension ursprünglich zeitgleich zur Buchmesse erscheinen sollte, es aber schlichtweg nicht schaffbar war, zeigt das. „Europas Hunde“ von Alhierd Bacharevič, das in diesem Jahr mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wurde, lässt sich weder schnell lesen noch leicht zusammenfassen.
Das liegt nicht nur an seinem Umfang – das Buch umfasst mehr als 700 Seiten, sondern vor allem an der Dichte des Inhalts. Das Werk ist in sechs Abschnitte unterteilt, die in Sprache und Thematik variieren und doch eng miteinander verflochten sind. Bacharevič erfindet darin eine neue Sprache, die den Lesenden selbst zum Übersetzen zwingt. Es ist ein Roman, der mit politischen, historischen und literarischen Referenzen so voll ist, dass man das Gefühl bekommt, eine ganze Bibliothek zum Mitlesen zu benötigen.
Im Zentrum steht die Auseinandersetzung mit Diktatur, Freiheitsdrang und Identität. Aus verschiedenen Perspektiven wird die politische Gewalt thematisiert, die auch aktuell in Belarus herrscht. Beim Lesen springt man zwischen Raum und Zeit und erfährt so über nationale und globale Entwicklungen. Jedes Kapitel wirkt wie ein eigener Roman, nimmt aber stets Bezug auf zuvor eingeführte Charaktere und Themen.
„Europas Hunde“ zeigt nicht nur eine dystopische Zukunft Europas auf, sondern wirft auch ein Licht auf menschliche Abgründe und auf die Macht der Begrenztheit von Sprache. Besonders spannend ist dabei, dass das Werk selbst zur Reflexion von Sprache wird: Wie übersetzt man eine Sprache, die es nicht gibt? Und wie ein Werk, in dem gerade die Sprache der eigentliche Protagonist ist? Denn mit der Konstruierten Sprache, die sich durch das Buch zieht, lernt man beim Lesen selbst die Möglichkeiten von Sprache. Jede*r bekommt das Wissen an die Hand durch Grammatikregeln, Übersetzungsheft und eigener Kreativität sich neue Wörter zu überlegen. Die deutsche Übersetzung von Thomas Weiler, der in Leipzig studierte, wurde auf Grund dessen mit dem Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet.
Ursprünglich 2017 in Litauen veröffentlicht, wurde das Buch fünf Jahre später von der belarusischen Regierung als extremistisch eingestuft, wie Bacharevič bei der Preisverleihung berichtet. Dem heute im Exil in Berlin lebenden Autor droht in seiner Heimat eine Haftstrafe wegen der politischen Inhalte des Werks.
„Europas Hunde“ ist ein Roman für alle, die bereit sind, sich auf eine fordernde Reise durch Sprache, Raum und Zeit einzulassen. Für jene, die Freude daran haben, eine Seite auch mehrmals zu lesen, um sie vollständig begreifen zu können. Mit seinem Ulysses-haften Charakter ist dies nämlich nötig.
Wer hingegen ohnehin schon Berührungsängste mit dicken und komplexen Büchern hat, sollte sich dieser Lektüre nur mit Vorsicht nähern. Doch gerade in einer Zeit, in der die Themen des Buches aktueller denn je sind, zeigt Bacharevič eindrucksvoll, wie unterrepräsentiert Belarus in der internationalen Literaturlandschaft ist – und wie wichtig es ist, genau jetzt hinzusehen.


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