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  • Kriminelle Ausländer: ein herbeigeschriebenes Problem

    Anschläge wie in Magdeburg oder München dominieren die Schlagzeilen. Doch die Migrationsdebatte ist eine Ablenkungsdebatte, findet Kolumnist*in Jo.

    Eine neue Woche, ein neuer Anschlag – so könnte man meinen. Und wenn man der medialen Berichterstattung folgt, könnte der Eindruck entstehen: Dieses Land versinkt im Terror! Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg, München – all diese Fälle haben in den vergangenen Monaten die Schlagzeilen dominiert. Auffällig häufig kurz vor irgendwelchen Wahlen.

    Nach jedem Anschlag stürzen sich reichweitenstarke Medien auf alles, was man in Erfahrung bringen kann und was von den Betroffenen noch übrig ist. Die Schlagzeilen zu jeder Tat lassen sich kaum noch unterscheiden. Egal ob Springer-Presse, öffentlich-rechtlicher Rundfunk oder vermeintlich seriöse Medien wie Spiegel oder Süddeutsche Zeitung: Fast überall prangt das Bild der Angst: Deutschland ist nicht mehr sicher! Ein Bild, das in der AfD-Parteizentrale wie auch im Konrad-Adenauer-Haus für Festtagsstimmung sorgt.

    Nahezu im Minutentakt werden über die Liveticker ohne Rücksicht auf die Betroffenen neue Informationen, Mutmaßungen, Gerüchte und Behauptungen rausgehauen. Die Fakten und Richtigstellungen reicht man dann Tage später, geschützt hinter einer Paywall, nach.

    Und wie gebannt sitzt die sensationsgeile Bevölkerung vor den Bildschirmen und wartet auf die Beantwortung einer einzigen Frage: War es ein Ausländer? Und je nachdem, wie die Frage beantwortet wird, entscheidet sich, ob Empörung oder Gleichgültigkeit folgt:

    „Ach es war ein Deutscher? Bedauerlicher Einzelfall eines geistig verwirrten Mannes, der ganz bestimmt auch seine Gründe für die Tat hatte. Nicht weiter berichtenswert.“

    „Jemand mit Migrationshintergrund? Etwa ein Ausländer? Sehr gut, wir können wieder die  Deportation von Millionen Menschen fordern.“

    Erst am Montag gab es wieder einen Anschlag in Mannheim. Und wie nach jedem Anschlag sitze ich da, starre mit leerem Blick auf den Liveticker auf meinem Handy-Bildschirm und verzweifle. Ich weiß, welche Reaktionen in den nächsten Stunden und Tagen folgen werden und spüre, wie Ohnmacht in mir aufsteigt. In der öffentlichen Debatte geht es nicht um die Opfer, nicht um die tatsächlichen Motive des Täters. Es geht nur darum, das eigene Narrativ zu verbreiten, dem Täter irgendeine Identität zuzuschreiben, damit man die Tat für seine eigenen politischen Zwecke instrumentalisieren kann.

    Mediale Wirklichkeit verzerrt die Realität

    Diverse sozialwissenschaftliche Studien, wie zum Beispiel die von Baier & Kudlacek aus dem Jahr 2019 („Gewalt und ethnische Herkunft: Eine Analyse von Erklärungsfaktoren am Beispiel türkischer Jugendlicher.“), kommen zu dem Schluss: Die Herkunft eines Menschen hat absolut keinen direkten Einfluss darauf, ob er kriminell oder gewalttätig wird.

    Dennoch: Tatverdächtige nichtdeutscher Herkunft sind in der medialen Berichterstattung überrepräsentiert. Einer Untersuchung der Hochschule Macromedia und der Universität Leipzig zufolge wurde 2019 im Fernsehen 19-mal häufiger über Gewalttaten von ausländischen Tatverdächtigen berichtet als es überhaupt dem Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger entspricht. In Zeitungen war es sogar 32-mal häufiger. Bei deutschen Tatverdächtigen wird die Nationalität häufig gar nicht erst erwähnt.

    Wenn wir ständig hören, wie kriminell und gewalttätig doch Ausländer sind, verzerrt das unsere Wahrnehmung der Realität und stanzt das Bild des kriminellen Ausländers in unsere Köpfe. „Ausländerkriminalität“ ist in der Berichterstattung so allgegenwärtig, dass sie zur gefühlten Realität geworden ist.

    Die realen Konsequenzen der Ablenkungsdebatte 

    Wohin diese Dauerpräsenz in der Berichterstattung führt, konnten wir bestens im Wahlkampf zur vergangenen Bundestagswahl beobachten. Kaum ein Thema war im Wahlkampf präsenter. Von AfD bis zu den Grünen überbieten sich die Parteien mit immer rigoroseren Abschiebeforderungen. Man will die AfD schwächen, indem man ihre Positionen übernimmt. Hat ja richtig gut geklappt. Wenn jeder Politiker sagt, dass Ausländer raus müssen, dann glauben das immer mehr Menschen und wählen die Partei, die am meisten dafür bekannt ist, Abschiebungen zu fordern.

    Die Kriminalitäts- und die Mordrate sinken seit Jahrzehnten. Deutschland ist so sicher wie noch nie zuvor und wir diskutieren überall darüber, dass Deutschland erst dann wieder sicher werden kann, wenn Menschen bereits an den europäischen Außengrenzen abgewiesen und in Lager gepfercht werden.

    In Mannheim hat sich herausgestellt, dass der mutmaßliche Täter Deutscher und in der Vergangenheit mit rechtsextremen Aussagen aufgefallen ist. Und worüber wird berichtet? Über seine psychischen Erkrankungen. Eine politische Motivation für den Anschlag wird nur wenige Minuten nach der Tat ausgeschlossen. Warum?

    Wo sind die Politiker, die angesichts dieser Bluttat härtere Maßnahmen gegen Rechtsextremismus fordern? Wir haben ein Rekordhoch an rechtsextremen Straftaten! Wo sind die ganzen Talk-Shows, wo über das „Nazi-Problem“ diskutiert wird? Und warum bekommt der Taxifahrer, der mit seinem Auto den Täter am Wegfahren gehindert hat, so wenig Aufmerksamkeit? Weil er A. Muhammad heißt und aus Pakistan stammt?

    Warum spricht niemand über bessere Integration? Über Hilfsangebote für psychisch Erkrankte? Über eine Ausweitung der Sozialhilfen zur Bekämpfung von Armut? Weil man sich damit seiner eigenen Sündenböcke berauben würde.

    Die Migrationsdebatte ist eine Ablenkungsdebatte, um sich nicht mit den wirklichen Problemen im Land beschäftigen zu müssen. Denn im Zweifelsfall würde man ja dann vielleicht die eigenen Sponsoren enteignen müssen. Und das kann ja keiner wollen, dass die Allgemeinheit am pervers hohen Reichtum Einzelner profitieren könnte. Lieber tritt man nach unten, spielt Arme gegen noch Ärmere aus und schürt damit den Hass auf jene, die keine Schuld an den Problemen im Land tragen.

    Die journalistische Verantwortung

    Wir als Journalisten schmücken uns immer mit unserer ach so tollen Verpflichtung zur Wahrheit, nur um sie bei der nächstbesten Gelegenheit für Klicks und Aufrufzahlen wieder über Bord zu schmeißen. Ich bin die Ausreden und Doppelstandards leid. Ihr berichtet nicht über ALLE Fakten, nur weil ihr die Nationalität des Täters nennt. Was ist denn mit den Nationalitäten der Opfer? Beispielsweise berichtet die Tagesschau über den Anschlag in München, dass eine 37-jährige Mutter und ihr zweijähriges Kind gestorben seien, ohne die algerische Herkunft der Mutter zu nennen. Den Täter bezeichnet sie als „24-jährigen Afghanen“.

    Zu unserer journalistischen Pflicht gehört es, Fakten und Aussagen einzuordnen. Dazu zählt, dass stumpfe Abschiebeforderungen, die so viele Politiker wieder und wieder herunterbeten, entweder eingeordnet oder halt mal einfach nicht gedruckt werden sollten.

    Wir haben eine Verantwortung, die Wahrheit zu berichten. Und dafür müssen wir auch die Realität abbilden. Wenn wir nicht wollen, dass Rechtsextreme diese Gesellschaft noch weiter zersetzen, müssen wir unser eigenes Handeln überdenken. Sonst wars das in ein paar Jahren mit unserer ach so heiligen Pressefreiheit. Und das kann doch selbst Matthias Döpfner nicht wollen, oder?

    Die sogenannte Migrationskrise ist ein herbeigeschriebenes Problem. Die AfD hat sie heraufbeschworen, wir Journalisten haben bereitwillig den Brandbeschleuniger gestellt und haben uns dafür lang genug selbst auf die Schulter geklopft.

     

     

    Screenshot/Titelbild: Jo Fedelinski

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